Berliner Volksuniversität '85: Die Theologie der Befreiung als weiteres Beispiel für den Unsinn jedweder Theologie

Aus: MIZ 3/85

Auf der Berliner Volksuniversität 1985 hielt Günter Kehrer, Religionssoziologe aus Tübingen, einen Vortrag über das Thema "Die 'Theologie der Befreiung' als weiteres Beispiel für den Unsinn jedweder Theologie".

Schon bei der organisatorischen Vorbereitung dieser Einzelveranstaltung war es zu einem kontroversen Briefwechsel darüber gekommen, ob sie im Rahmen des sogenannten Christenressorts oder der "Freien Projektreihe" stattfinden sollte.

Obwohl der Verantwortliche für das "Christenressort", Jan Rehmann, gegen eine Veröffentlichung dieses Briefwechsels ist, möchten wir hier doch einige kontroverse Punkte daraus wegen ihrer inhaltlichen Bedeutung in der Form der Gegenüberstellung von Zitaten bringen. Damit soll nicht ein Sieg der Kehrerschen Positionen über die von Jan Rehmann implizit behauptet werden. Der Leser muß versuchen, zu einem eigenen Urteil zu kommen. Vielleicht dient die Veröffentlichung dieser Zitate auch der Fortführung der Diskussion in unserem Journal.

MIZ-Redaktion

Rehmann an Kehrer (Brief vom 11.3.1985)

Sie begründen die "Irrationalität" der Befreiungstheologie damit, daß sie weiterhin Theologie ist. Diese Argumentation basiert auf Wortfetischismus: Dem Wort Theologie wird - entsprechend dem Selbstverständnis der herrschenden Theologie - ein einheitliches Signifikat unterschoben, eine wesensartige Substanz. Man braucht das Wort nur auszusprechen, um die Angelegenheit hinreichend zu entlarven. Das Entscheidende fällt in dieser Polemik jedoch unter den Tisch: Religion und Theologie sind v. a. widersprüchliche Felder, auf denen soziale Kämpfe ausgetragen werden. Die bürgerlich-aufklärerische Angewohnheit, Religionen nach dem Raster rational - irrational zu beurteilen, konnte in neueren Ansätzen des marxistischen Materialismus glücklicherweise überwunden werden. Marxisten, die sich auf die Untersuchung ideologischer Prozesse und ihrer Eigengesetzlichkeit konzentrieren, interessieren sich weniger für die Entlarvung des "Irrationalismus" von Religionen, sondern für ihre Wirkungsweise, ihre Kohäsionskraft, für die Formen, in denen soziale Konflikte ausgetragen werden (z. B. Gramsci, Althusser, Mariategui).

Kehrer an Rehmann (Brief vom 15.3.1985)

Meine Theologie- und Religionskritik ist bürgerlich-aufklärerisch und fällt hinter den aktuellen Diskussionsstand, wie er zwischen Marxisten und Christen gegeben ist, zurück. Dazu bemerke ich folgendes: Ich weiß mich der bürgerlichen Aufklärung tatsächlich verpflichtet, und die gesamte marxistische Tradition wird mit mir diese Meinung teilen. Marx ist in bezug auf die Religionskritik (Vorwurf des irrationalen und illusionären Charakters der Religion) keinen Zentimeter von der Aufklärung abgewichen; er hat "lediglich" in der Analyse der Entstehung der Religion (zusammen mit Engels) der sozialen Verursachung ein neues Gewicht gegeben. Daß Religionen die Form abgeben können, in der u. a. soziale Konflikte ausgetragen werden, ist nicht erst seit Gramsci bekannt, sondern ist eine der Hauptthesen etwa in Engels' Schrift über den deutschen Bauernkrieg. Soweit mir bekannt, hat bisher kein marxistischer Autor aus diesen Beobachtungen den Schluß gezogen, daß das Raster "rational - irrational" überwunden sei. Oder wollten Sie sich auf Garaudy berufen?

Theologie-Begriff: Daß Theologien und Religionen komplexe Erscheinungen sind, ist mir beruflich hinreichend bekannt. Jede christliche Theologie (ich lasse außer acht, inwiefern man außerhalb monotheistischer Systeme von Theologie sprechen sollte) hat jedoch Komponenten, die sie als Theologie irrational werden lassen (selbstverständlich nehme ich hier bestimmte historische Forschungen im Rahmen der Theologie aus). Die Irrationalität besteht darin, daß alle Theologie in irgendeiner - und sei es noch so verblasenen - Weise auf "Gott" oder äquivalente Begriffe zurückgreift, die normalem Wissenschaftsverständnis nach nie Gegenstand eines rationalen Diskurses werden können. Ich lasse mich hier natürlich jederzeit von der Falschheit meiner Argumentation durch rationale Argumente überzeugen. Die enorme Variabilität der Theologie beruht geradezu auf ihrem irrationalen Charakter: Über Gott kann man nichts aussagen, was sich als falsch erweisen ließe. Das heißt: Man kann über ihn alles aussagen. Und so bleiben Theologie der Befreiung und Militärseelsorge brüderlich unter dem Kreuz zusammen. Aber diese ganze wissenschaftstheoretische Diskussion ist wirklich schon zur Genüge geführt. Notwendig ist es lediglich, sie gelegentlich in die Erinnerung zurückzurufen, wenn sie droht, in Vergessenheit zu geraten wie im Fall der politisch sympathischen Theologie der Befreiung.

Rehmann an Kehrer (Brief vom 11.3.1985)

Die Entlarvungsstrategien der Linken in der Weimarer Republik gegenüber Kirche und Christentum waren verhängnisvoll: Sie trugen mit dazu bei, daß sich die Mehrzahl der Gläubigen mit der Politik der Arbeiterparteien nicht anfreunden konnten, und erleichterten letztlich die faschistische Besetzung der Volksreligiosität.

Kehrer an Rehmann (Brief vom 15.3.1985)

Hier kann man sich kurz fassen. Die Fakten, die jedem Historiker zugänglich sind, belegen die Falschheit dieser These. Es ist einer der üblichen Tricks der Christen, für alle negativen Dinge die Christentumsgegner verantwortlich zu machen. Die konservativen Christen sprachen in den fünfziger Jahren davon, daß der "Abfall von Gott" den Faschismus ermöglicht habe (Thielicke, Künneth, Althaus). Ihre Auslassungen sind die linkschristliche Variante der gleichen Strategie.

Rehmann an Kehrer (Brief vom 11.3.1985)

Uns stört insbesondere auch das polemische Strickmuster Ihrer Ankündigung. Sie orientiert nicht auf den Dialog mit Andersdenkenden, sondern auf Abgrenzung. Statt offene Probleme oder Forschungsfragen zu formulieren, kanzeln Sie den Standpunkt linker Christen von vornherein ab: "objektiv sozialschädlich", "Unsinn", "progressive Töne aus den kirchlichen Winkeln" etc. Aus Ihrer Ankündigung entnehmen wir, daß Sie Ihre Veranstaltung als Agitationsveranstaltung konzipieren. Daran ist die Volksuni nicht interessiert.

Kehrer an Rehmann (Brief vom 15.3.1985)

Ausgrenzung im Sinne der Unterscheidung von wissenschaftlich vertretbarer politischer Haltung und derselben politischen Haltung, die nicht rational begründet wird, sollte tatsächlich geleistet werden. Wenn das Agitation ist, meinetwegen.

Rehmann an Kehrer (Brief vom 11.3.1985)

Unser Vorschlag: Ihre Ankündigung kommt in die Rubrik "Projekte stellen sich vor" (den Begriff "sozialschädlich" werden wir allerdings durch einen anderen ersetzen; er weckt schlimme Assoziationen), und wir machen in unserem Programmteil einen Querverweis auf Ihre Veranstaltung.

Kehrer an Rehmann (Brief vom 15.3.1985)

Ich habe mit meinen Berliner Freunden verabredet, daß wir in Teufels Namen Ihr Angebot akzeptieren, meine Ankündigung unter "Projekte stellen sich vor" zu rubrizieren. Auf eine Ersetzung von Begriffen in meiner Ankündigung möchte ich Sie untertänigst bitten zu verzichten, da ich bisher wenig Erfahrung im Umgang mit Zensur habe und dies auch beibehalten möchte. Überlassen Sie "schlimme (oder andere) Assoziationen" doch dem Leser.

Einleitung

Während die fortschrittlichen Kräfte im 18. und 19. Jahrhundert, ja noch im 20. Jahrhundert sich in ihrer Ablehnung des Christentums sicher waren, scheint dies heute nicht mehr so ohne weiteres der Fall zu sein. Über Jahrhunderte hinweg zählte die organisierte christliche Religion der großen Konfessionen zu den konservativen, ja reaktionären Teilen der Gesellschaft, und links zu sein bedeutete automatisch, antiklerikal, antichristlich, antireligiös zu sein. Zwar gab es zu allen Zeiten auch sogenannte progressive Christen, Christen, die ihr Christsein mit fortschrittlichen Ideen zu verbinden suchten, denken wir etwa an den christlichen Sozialismus von Wilhelm Weitling. Diese Gestalten haben etwas Rührendes an sich. Ihre Mischung von religiöser Naivität und politisch richtigem Instinkt verbietet dem Kritiker die Haltung der Ironie und des Hohnes.

Zurück zur Aufklärung

So verständlich es ist, daß unter rückständigen sozio-ökonomischen Bedingungen und unter wenig entwickelten kulturellen Voraussetzungen sozialer Protest sich in religiöser Umhüllung äußert, so wenig darf diese Tatsache uns dazu verleiten, in den Religionen selbst ein revolutionäres Potential anzunehmen. Gerade weil es heute im Zeichen neu zu Ehren gekommener Irrationalität wieder modern ist, von Tiefe, von mythischen Ursprüngen und von unvergänglichen Wissensbeständen zu munkeln, ist es notwendig, zu den Lichtern des 18. Jahrhunderts zurückzukehren, nicht um sie kritiklos nachzubeten, sondern um das von ihnen zu lernen und zu bewahren, wofür ihre Namen stehen, wofür Voltaire, d'Alembert, Diderot, d'Holbach ihr Leben einsetzten: für den Sieg der Vernunft, einen Sieg ohne Phrase, ohne "wenn und aber". Befreiung des Menschen kommt aus dem Kopf, und auch noch unsere Sinnlichkeit kann erst dann zu sich selbst kommen, wenn wir die Bedingungen ihrer Existenz vernünftig erkannt haben. Und weil es außerhalb der Welt nichts gibt, was erkennen könnte, ist der Kampf gegen die Religion notwendiger Bestandteil jeder fortschrittlichen Politik.

Wo sind unsere Gegner?

Dabei geben wir gern zu, daß dieser Kampf heute schwieriger geworden ist, denn der Gegner von einst ist feiner, sensibler geworden. Lenin frei paraphrasierend kann man sagen: "Ein Pfaffe, der Mädchen schändet, ist weit weniger gefährlich als ein Pfaffe ohne grobschlächtige Religion, als ein von Ideen erfüllter, demokratischer, fortschrittlicher Pfaffe." Etwas abstrakter ausgedrückt: Die mit den Herrschenden versippte, über Steuerpipelines verbundene Kirche mit ihren waffensegnenden und Unterordnung predigenden Pfaffen ist leicht zu bekämpfen. Ganz anders dagegen die fortschrittlichen Geistlichen, die in vorderster Front stehen bei den Nicaragua-Demonstrationen, bei den Friedens-Demos, die ihre Kirchen und Gemeindehäuser den Gruppen öffnen, die ansonsten keine öffentlichen Räume ohne horrende Bezahlung bekämen. Sind das unsere Gegner?

Ich möchte gleich von Anfang an klarstellen: Das sind nicht unsere politischen Gegner! Das sind auch nicht unsere persönlichen, menschlichen Gegner. Ich für meine Person habe viele Theologen als Freunde, und ich denke nicht daran, mir persönliche Freundschaften durch weltanschauliche Differenzen kaputtmachen zu lassen. Ich denke aber auch nicht im Traume daran, wegen persönlicher Freundschaften Unsinn nicht mehr Unsinn nennen zu wollen. Dies gilt erst recht für die Beziehung von Politik und Religion. Niemand, der recht bei Trost ist, wird die politische Zusammenarbeit mit Menschen und Gruppen verweigern, weil diese ihre fortschrittlichen politischen Ideen und Taten religiös begründen. Aber das heißt noch lange nicht, daß wir aufhören, diese Begründungen zu kritisieren und zu bekämpfen, weil wir eben Religion kritisieren und bekämpfen.

Wenn wir uns kritisch und polemisch mit einer Theologie auseinandersetzen werden, die in ihren politischen Aussagen uns als Linken so sympathisch ist, so wollen wir nicht Menschen in die Pfanne hauen, sondern wir wollen aufklären. Aufklären darüber, daß diese Theologie das ist, was alle Theologie immer war und sein wird: in ihrem Kern irrational. Diese Irrationalität ist gefährlich, weil sie nicht kalkulierbar ist, weil sie die Tür zu allem und jedem offenhält.

Damit meine Ausführungen nachprüfbar bleiben, werde ich mich auf die Analyse eines einzigen Buches beschränken, das allerdings gut ausgewählt ist, denn es ist eine Art Summe lateinamerikanischer Betreiungstheologie: Gustavo Gutiérrez' Teologia de la Liberación, zuerst erschienen 1972, auf deutsch 1973. Ich werde immer aus der fünften Auflage von 1980 zitieren.

Hauptteil: Theologie der Befreiung

Warum Theologie? Was heißt das?

Dankenswerterweise ist der Verfasser so hilfsbereit, daß wir ihn nur zu zitieren brauchen, um zu erfahren, daß Theologie eine ganz besondere Art des Denkens ist:

"Theologie ist notwendigerweise Spiritualität und rationales Wissen zugleich." (S.10)

Das heißt: Wer Theologie treibt, will nicht nur auf rationale Weise wissen, erkennen, sondern er treibt noch etwas anderes: Er spiritualisiert, das heißt, er ist fromm, er wirft sich in die Tiefen einer anderen Weise des Seins. Diese Einheit von Spiritualität und rationalem Wissen ist tatsächlich das Gütezeichen von Theologie.

Gewiefte Theologen weisen gern darauf hin, daß alle Wissenschaften ihre Prämissen hätten, die letztlich nicht überprüfbar seien. Und damit haben sie gar nicht unrecht.

Aber es gibt eine bedeutende Differenz. In den nichttheologischen Wissenschaften bewähren sich solche Prämissen oder auch nicht, und sie können deshalb geändert werden. In der eigentlichen Theologie ist dies nicht der Fall. Wer Theologie ohne spirituelle Grundhaltung betreiben will, hört auf, Theologe zu sein.

Das sind keine leeren akademischen Worthülsen, sondern das hat Konsequenzen. Bei Gutiérrez liest sich das so:

"In dem Maße, in dem der Mensch Geschichte schafft, richtet er sich auf das Geschenk hin aus, das der Geschichte ihren letzten Sinn gibt, und öffnet sich ihm, das heißt dem endgültigen und vollen Treffen mit dem Herrn und den übrigen Menschen." (S.15)

Das ist ein schöner Satz. In ihm sind so ziemlich alle Redewendungen versammelt, die das Herz höher schlagen lassen. Da hat Geschichte einen letzten Sinn, den selbstverständlich nur der Christ kennt, und dieser Sinn ist ein Rendez-vous, bei dem sich alles trifft. Dieser Super-date kommt erst ganz am Schluß: Der Herr erscheint. Das ist die Wiederkunft Christi. (In der Bibel steht, daß er aus den Wolken kommen wird; Gutiérrez verschweigt dies peinlich berührt.) Und alle Menschen sind auch da.

Und jetzt kommt die linke Variante: Während bisher die Christen auf dieses Rendez-vous warten mußten wie das bestellte, aber nicht abgeholte Mädchen, können wir jetzt was tun: Wir schaffen Geschichte (was zum Teufel schaffen die Menschen denn sonst!), und indem wir schaffen, richten wir uns auf ein Geschenk ein, das der Geschichte, also unserem Schaffen, erst einen Sinn gibt.

Ein sauberes Geschenk, für das wir erst schaffen müssen. Gott kommt mir in diesem Bild vor wie der schwäbische Unterhosenfabrikant, der seine Arbeiter malochen läßt und gleichzeitig völlig davon überzeugt ist, daß der Lohn, den er zähneknirschend zahlt, ein Geschenk sei.

Befreiung oder Erlösung?

Sind so erst einmal die religiösen, irrationalen Grundlagen der Argumentation gelegt, so braucht es uns nicht zu erstaunen, wenn auch Begriffe wie "Befreiung" und "Unrecht" theologisiert werden.

Gutiérrez geht realistischerweise von der Situation aus, daß die Menschen besonders in Lateinamerika in einer ungerechten und unterdrückerischen Gesellschaft leben. Die Erfahrung von Ungerechtigkeit und Unterdrückung ist unmittelbar. Die Aufgabe jeder reflektierten, fortschrittlichen Politik wäre es nun zu analysieren, was die Gründe für diesen Zustand sind. Was hat der Theologe Gutiérrez als Lösung anzubieten?

"Sünde als Bruch der Freundschaft mit Gott und den Menschen ist ... der letzte Grund für alle Misere, Ungerechtigkeit und Unterdrückung, in der die Menschen leben." (S.41)

Man könnte jetzt vielleicht einwenden, es sei doch letztlich egal, wie ein christlicher Theologe die Gründe für Ungerechtigkeit und Unterdrückung in der Welt sieht, sofern er nur bereit ist, aktiv dagegen anzukämpfen. Dies mag für den konkreten politischen Tageskampf richtig sein: Man kann auch mit falschen Begründungen das Richtige tun. Aber dennoch sind diese religiösen Denkfiguren nicht ungefährlich, denn wer in der "Sünde", die definiert wird als Bruch mit Gott, die letzte Ursache allen Elends sieht, muß auch in Gott das erste und letzte Heilmittel erblicken. Und so schreibt Gutiérrez folgerichtig:

"Christus, der Retter, befreit den Menschen von der Sünde, die die letzte Ursache ... einer jeden Ungerechtigkeit und Unterdrückung ist. Christus macht in Wahrheit frei, das heißt: ermöglicht ein Leben in Gemeinschaft mit ihm, der Grundlage aller Brüderlichkeit ist." (S.42)

Dieser Satz zeigt ein Mehrfaches auf:

  • Die irrationale, abartige Grundlage dieses ganzen Denkens. Hier wird nicht argumentiert, sondern gepredigt.
  • Die Reduktion emanzipatorischer politischer Kategorien auf religiöse Wahngebilde. Da macht Christus in Wahrheit frei. Das heißt doch im Klartext, wer nicht in Gemeinschaft mit ihm lebt, kann gar nicht brüderlich, gerecht, frei sein. Das Ganze hat Tradition: Der hl. Augustinus bezeichnete die Tugenden der Heiden als glänzende Laster. Nur ein Christ kann eigentlich ein wahrhaft guter Mensch sein. Es handelt sich bei Gutiérrez um die linke Variante des alten christlichen Totalitarismus.
  • Die völlige Beliebigkeit, mit der konkrete politische Forderungen mit den religiösen Worthülsen verbunden werden. Wie ist einsichtig zu machen, daß uns die Gemeinschaft mit Christus zur Teilnahme am Befreiungskampf führt? Warum nicht zu den Contras, zur CIA, zu den Apartheid-Aposteln? Sind das keine Christen, leben die nicht in Gemeinschaft mit Christus? Ist Ronald Reagan nicht genau so gut Christ wie Ernesto Cardenal? Vergessen wir nicht, es waren Christen, in Gemeinschaft mit Jesus Christus lebend, die Adolf Hitler als gottgesandten Führer Deutschlands bejubelten. Eine Religion und eine Theologie, die so anpassungsfähig ist, daß sie mit allem und jedem zusammengehen kann, dient nur als pure Ideologie; sie fördert keine selbstbewußte Befreiung des Menschen, sondern ist in allem und jedem Fessel für Denken und Handeln.

Die Taufe der säkularisierten Welt

Das alles weiß natürlich auch Gutiérrez. Er bedarf deshalb auch der Hilfskonstruktionen, um seine Theologie der Befreiung aufrechterhalten zu können. Und die alte, aber immer wieder beliebte Konstruktion ist es, alle Menschen zu Christen zu machen. Seit die christliche Mission etwas ins Stocken geraten ist, seit sie nicht mehr so ungeniert im Schutze christlicher Kanonenboote fischen kann, seit immer mehr Menschen überall in der Welt sich vom religiösen Spuk befreien, steht die christliche Theologie vor der Frage, wie sie mit dieser Tatsache umgehen soll.

Aber keine Panik auf der klerikalen Titanic! Wo die Not am größten, sind die Theologentricks am nächsten, und Gott ist mit den Unverschämten. Am einfachsten ist es, man tauft eben genau das, was sich gegen die Religion richtet. Das hat eine gute Tradition, und Gutiérrez braucht nur die bereitstehenden Mechanismen aufzugreifen. Die Welt ist säkularisiert, die Menschen wollen ihr Leben selbst verantworten und sich nicht mehr religiös gängeln lassen.

Noch vor zwei Generationen eine Katastrophe, Weltuntergang, Abfall von Gott. Völlig falsch! Drehen wir es einfach um; die Kirche hat einen guten Magen, kann auch die Säkularisierung gut vertragen. Und das liest sich dann so:

"Säkularisierung (ist) ... ein Prozeß, der nicht nur mit einer christlichen Sicht von Mensch, Geschichte und Kosmos völlig übereinstimmt, sondern auch eine größere Fülle christlichen Lebens ermöglicht, und zwar in dem Maße, in dem sie dem Menschen gestattet, vollgültiger Mensch zu sein." (S.64)

Da staunst du! Das ist die alte Praxis der Zwangstaufe, ins Intellektuelle gewendet. Da brauchen wir uns auch nicht mehr zu wundern, wenn wir erfahren, daß "die Welt im Laufe der Entwicklung allmählich zur Anerkennung der ihr eigenen Konsistenz gelangt." (S.63)

Das hoffen wir Atheisten auch und arbeiten kräftig an diesem Prozeß mit, allerdings verzichten wir dankend auf christliche Unterstützung dabei, und das ist kein persönlicher Trick, kein hirnverbrannter Sparren, sondern wir wissen zu gut, daß, wenn man denen den Finger gibt, sie nicht nur die ganze Hand nehmen. So weiß die Theologie einiges über den Menschen zu sagen: "Einen Menschen, der nicht zur Gemeinschaft mit dem Herrn eingeladen ... wäre, hat es niemals gegeben." Zu dieser Party wollen wir aber nicht eingeladen sein. Hier eröffnen sich ungeahnte Möglichkeiten einer integralen, totalen Klerikalisierung der Gesellschaft. Wenn alle Menschen Christen sind, auch wenn sie es noch nicht wissen, sogenannte namenlose, anonyme Christen, dann bedürfen sie nur noch der Nachhilfe durch die schon benannten Christen, sie müssen aus der halben Bewußtlosigkeit ins helle Licht der Klarheit gebracht werden, denn wer eingeladen ist, es aber noch nicht weiß, dem soll man die Einladung überbringen.

Und wenn er nicht kommt? Das ist das alte Problem der Kirche. Da muß man etwas nachhelfen, ihn etwas nötigen, einzutreten. Mit dieser Bibelstelle hat der hl. Augustinus die Zwangsmission begründet.

Das klingt heute alles so abwegig, so völlig aus der Luft gegriffen, daß die Christen gern behaupten, wir Atheisten sähen Gespenster. Aber ganz so einfach ist es nicht. Es gibt meines Wissens kein Beispiel dafür, daß eine christliche Kirche freiwillig darauf verzichtet hätte, ihren Gewissenszwang, ihre Vorstellungen vom richtigen Leben auch auf Nichtgläubige auszudehnen. Ich lasse mich gern vom Gegenteil überzeugen. Die christliche Religion ist nach wie vor totalitär. Da sie davon ausgeht, daß alle Menschen eigentlich Christen seien, es nur noch nicht wüßten, und da die Kirche weiß, was ein Christ tun und lassen soll, ist es nur zu normal, daß sie ihr Mutter- und Lehramt auf die ganze Welt erstreckt: urbi et orbi! Und von dieser geistigen Haltung ist auch Gutiérrez beseelt, das ist seine Welt. Natürlich redet er nicht von Zwangsmission; auch unterstelle ich ihm nicht, daß er davon träumt. Aber aus diesem Geist kann dies jederzeit erwachsen, und die Geschichte des Christentums zeigt nur zu deutlich, daß dies keine leere Möglichkeit ist.

Von der theologischen Defensive zum neuen klerikalen Universalismus

Aber kehren wir zur eigentlichen Theologie der Befreiung zurück! Zentral für Gutiérrez ist der Zusammenhang von Befreiung und Erlösung. Befreiung ist eine politische Kategorie, Erlösung eine religiöse. Dabei geht der Autor von einem Heilsuniversalismus aus:

"Der Mensch, der sich auf Gott und die anderen hin öffnet, ist gerettet, selbst wenn ihm diese Dinge nicht mit letzter Klarheit bewußt werden sollten. In der Gültigkeit dieser Feststellung besteht kein Unterschied zwischen Christen und Nicht-Christen. Wer aber von der Gegenwart der Gnade (sei sie angenommen oder abgelehnt) in allen Menschen spricht, wertet damit zugleich im christlichen Sinn die Wurzeln eines jeden menschlichen Handelns. Es wird unmöglich, im strengen Sinne des Wortes von einer profanen Welt zu sprechen." (S.137)

Hier haben wir wieder diese Argumentation, die mit einem Federstrich unversehens die ganze Welt dem Christentum einverleibt. Während die Kirche im 19. und 20. Jahrhundert sich in einer Festung wähnte, rings umgeben von einer feindlichen säkularen, profanen Welt, kehrt die linke Theologie zu den universalistischen Kategorien der Scholastik und der frühen Neuzeit zurück.

Natürlich will Gutiérrez in erster Linie damit die Kirche ansprechen und sie aus ihrer Festungsmentalität befreien, aber er eröffnet damit zugleich das Tor für eine Klerikalisierung der Gesellschaft. Wenn Welt und Gesellschaft in religiösen Kategorien interpretiert werden, so zeigt sich die Irrationalität des gesamten Unternehmens. Ich darf diese Behauptung durch einige längere Zitate untermauern:

"Die Bibel ist das Buch der Verheißungen, die Gott den Menschen gegeben hat. Gott will den Menschen seine Liebe offenbaren, sich in Selbstmitteilung geben und damit gleichzeitig ihnen das Geheimnis ihres Menschseins eröffnen."(S. 149)

"Die menschliche Geschichte ist in der Tat nichts anderes als die Geschichte der allmählichen, gefahrvollen und überraschenden Erfüllung der Verheißungen." (S.149)

"Nun steht aber Erlösung in unmittelbarer Beziehung zur Sünde, die - als Bruch der Freundschaft mit Gott und den anderen - eben eine menschliche, soziale und historische Wirklichkeit darstellt... " (S.166)

"Sünde ist eine soziale und geschichtliche Tatsache. Sie besagt entzweite Brüderlichkeit, enttäuschte Liebe, zerbrochene Freundschaft mit Gott und den Menschen und - damit auch - innere Spaltung der menschlichen Person." (S.169)

Die Trias: Sünde - Erlösung - Befreiung macht den Kern der Befreiungstheologie aus. Der Begriff der Sünde ist nur sinnvoll, wenn wir von der Existenz Gottes ausgehen. Für Gutiérrez ist dabei kein Zweifel. Er ist ein echter Theologe, der die zentrale Grundlage seiner Gedanken nicht hinterfragt.

Das Problem der Freiheit

Es ist notwendig, daran zu erinnern, daß die Vorstellung von einem Schöpfergott an sich schon reaktionär und inhuman ist. Über diese Tatsache kann man nicht hinwegsehen. Auch wenn Gutiérrez immer wieder betont, daß der Glaube an die Schöpfung ihr alles Mythologische und Numinöse nähme, wird in Wahrheit nur ein Mythos durch einen anderen ersetzt. Solange man einen Gott, der in der Geschichte handelt und rettet (S. 142) annimmt, so lange ist der Mensch nicht frei. Freiheit heißt Unabhängigkeit von Macht und Zwängen. Auch wenn diese Mächte nur im Kopf existieren, können sie Freiheit verhindern. Im Verhältnis von Gott und Mensch kann es keine Freiheit geben, denn es ist eine Relation von Schöpfer und Geschöpf. Frei kann nach theologischer Meinung der Mensch erst sein, wenn seine Beziehung zu Gott in Ordnung gebracht ist. Die Störung dieser Beziehung ist die Ursache aller sozialer Widerwärtigkeiten. Konsequenterweise ist die Antwort auf die Sünde: Erlösung. Und Erlösung kann nur das Werk Gottes sein. Als Modell für diese Erlösung, die zur Befreiung wird, dient dieser linken Theologie der Exodus, der Zug Israels aus Ägypten.

An dieser Stelle zeigt sich mit aller Deutlichkeit, mit welcher kaltblütigen Unverfrorenheit die Theologen - und gerade die linken Theologen - mit der historischen Wahrheit umspringen. Da wird auf der einen Seite behauptet, die christliche Religion befreie vom Mythos, und auf der anderen Seite werden Mythen wie Tatsachen erzählt.

Jeder Theologe weiß, daß diese ganze Exodus-Theologie überwiegend ein Produkt der Exil-Zeit ist. Aber das hindert nicht daran, fröhlich zu schreiben: "Nun ist aber die Befreiung aus Ägypten eine politische Affäre." (S. 144)

Und wenn man schon beim Geschichtsklittern ist, dann soll man nicht so zimperlich sein: "Der Exodus ist der lange Marsch in Richtung auf das verheißene Land, in dem eine Gesellschaft aufgebaut werden soll, die frei ist von Elend und Entfremdung." (S. 145)

Und wie sahen die Autoren des Alten Testaments diese von Elend und Entfremdung freie Gesellschaft, oder besser, wie kam man dorthin?

"So spricht der Herr Zebaoth: Ich habe bedacht, was Amalek Israel tat und wie er ihm den Weg verlegte, da er aus Ägypten zog. So ziehe nun hin und schlage die Alekiter und vernichte sie mit allem, was sie haben; schone ihrer nicht, sondern töte Mann und Weib, Kinder und Säuglinge, Ochsen und Schafe, Kamele und Esel." (1.Samuel 15, 2-3)

Denn auch das gehört zum Wort Gottes: die Ausrottung derer, die das verheißene Land unvorsichtiger Weise bewohnten, bevor das Volk Gottes seinen Einzug hielt. Mit gutem Recht kann man aus verschiedenen Stellen der Bibel Anleitungen zu Endlösungsstrategien und Handreichungen für den SS-Mann herauslesen.

Der Sündenfall bei Marx

Welche Befreiung kommt aus solchen Gedanken? Die alte unselige Angewohnheit der Theologen, sich das aus ihrer Bibel herauszupicken, was ihnen gerade in den Kram paßt, und alles andere entweder wegzulassen oder historisch wegzuinterpretieren, ist auch die Methode von Gutiérrez. Und diese schon in Fleisch und Blut übergegangene Fälschermentalität macht auch vor fremden Autoren nicht halt. So munkelt er auf S.170 in Anm. 98 dunkel: "Ohne zu viel sagen zu wollen, möchten wir an den Vergleich erinnern, den Marx zieht zwischen Sünde und Privatbesitz an Produktionsmitteln: Diese ursprüngliche Akkumulation spielt in der politischen Ökonomie mehr oder weniger dieselbe Rolle wie die Erbsünde in der Theologie. Adam biß in den Apfel und so kam die Sünde in die Welt. " (S. 170). Muß der arglose Leser nicht annehmen, Marx und die Theologie seien sich darin einig, daß die ursprüngliche Akkumulation als Sünde zu bezeichnen sei? Und was steht exakt an dieser Stelle bei Marx?

"Der Ursprung (der ursprünglichen Akkumulation) wird (von der politischön Ökonomie) erklärt, indem er als Anekdote der Vergangenheit erzählt wird. In einer längst verflossenen Zeit gab es auf der einen Seite eine fleißige, intelligente und vor allem sparsame Elite und auf der anderen Seite faulenzende, ihr alles und mehr verjubelnde Lumpen ... So kam es, daß die ersten Reichtum akkumulierten und die letzten schließlich nichts zu verkaufen hatten als ihre Haut." (Das Kapital, Bd. I, S. 751f.)

Marx bezeichnet diese Story als politökonomische Sündenfallgeschichte und weist schon dadurch auf ihren absurden Charakter hin.

Gutiérrez zitiert Marx nicht nur schlampig, sondern er verfälscht ihn ins genaue Gegenteil. Das ist die alte Taktik, alles was einem christlichen Theologen als gut erscheint, sofort für das Christentum zu reklamieren. So fälschte man früher sogar einen Briefwechsel zwischen Seneca und Paulus.

Das Geschenk Christi

Kehren wir zur Befreiung zurück. Wir haben schon gesehen, daß ein Zusammenhang zwischen Befreiung und Erlösung besteht. Im Verlauf des Buches läßt Gutiérrez die Katze immer weiter aus dem Sack:

"Radikale Befreiung ist das Geschenk, das Christus bringt. Durch seinen Tod und seine Auferstehung erlöst er den Menschen von der Sünde und all ihren Folgen." (S.170)

"Von der Sünde", das wollen wir den Christen gerne lassen, das ist ihr Revier, auf dem sie schon von Anfang an die Geister quälen. Aber "von den Folgen der Sünde"? Was sind diese Folgen? Wir haben aus dem Buch gelernt, das seien höchst weltliche Dinge wie Ungerechtigkeit, Misere, Unterdrückung. Und von denen hat uns Christus, wie Gutiérrez weiß, befreit. Die offensichtliche Sinnlosigkeit dieser Sätze liegt auf der Hand. Aber auch das löst sich auf:

"Die Wurzel des Elends und die letzte Bedingung der neuen Gesellschaft sind aber nur erreichbar für den, der das befreiende, alle Erwartungen übertreffende Geschenk Christi annimmt." (S.171).

So schließt sich der Kreis: Der Christ verfügt über ein Spezialwissen, das er aber nicht erwirbt, weil er sich besonders eifrig um intellektuelle Einsicht bemüht, nein, das Spezialwissen bekommt er gratis mit, wenn er ein anderes Geschenk annimmt. Da haben wir wieder die alte liebe Theologenleier, die das Lied spielt, daß man sich auf den Glauben einlassen müsse, ein Geschenk anzunehmen habe, aber nicht mit der Vernunft zerreden solle. Das läuft alles wieder auf das Opfer der Vernunft hinaus: das sacrificium intellectus - die geistige Grundlage der christlichen Religion.

Die neue Theologie

Vielleicht mag jetzt der eine oder andere fragen: Warum diese ganze Aufregung? Du magst ja recht haben, daß Gutiérrez religiös reaktionär und irrational ist; aber ist dies so wichtig? Sind nicht ganz andere Aussagen entscheidender? So, wenn er etwa schreibt:

"Jedes Bemühen um eine gerechte Gesellschaft hat heute notwendigerweise den Weg über die bewußte und tätige Mitwirkung am Klassenkampf zu nehmen, der sich vor unseren Augen abspielt." (S. 262)

Kann man ihm nicht seine theologischen Flausen lassen, die er offensichtlich braucht, um politisch etwas Vernünftiges zu sagen?

Prinzipiell kann man in einer konkreten politischen Situation dem schon zustimmen. Niemand wird daran denken, sich zu weigern, mit Christen zusammen an einer Demonstration gegen Atomwaffen teilzunehmen, nur weil diese Christen meinen, mit der Auferstehung Christi seien Raketen überflüssig geworden. Dennoch ist eine klare Erkenntnis über den Charakter der christlichen Begründungen notwendig. Warum? Weil die sogenannten fortschrittlichen, linken Theologen geeignet sind, in den Köpfen politisch fortschrittlicher Menschen Verwirrung anzurichten. Worin liegt diese Verwirrung?

Sie liegt in der Fortsetzung des alten Versatzstückes von "Schöpfung, Sünde, Erlösung" mit anderen Mitteln. Sie liegt in der Kaschierung der jahrhundertelang bewährten Verbindung von unsinnigen Mythen mit reaktionärer politischer Praxis. Denn diese Kombination stellt ja noch immer die weit überwiegende Kombination klerikalen Handelns dar: Der hohe Klerus gibt die warmen Winkel der Macht nur ungern auf. Und die neuen Theologen, die wir soeben kennengelernt haben, bringen nur eine politische Option neu ins Spiel: politisches Engagement zugunsten der Unterdrückten und Benachteiligten. Sonst bleibt es aber bei der alten pfäffischen Leier: Schöpfung, Sünde, Erlösung.

Diese Begriffe sind und bleiben aber schon ihrer Anlage nach reaktionär und jeder Emanzipation feindlich. Schöpfung setzt einen Schöpfer voraus und dieser Schöpfer ist zwangsläufig mehr als sein Geschöpf. Daran ändert auch eine politische Option nichts.

Für den Christen war zu allem die Sünde schlechthin die Idolatrie, die darin bestand, das Geschöpf anstelle des Schöpfers zu verehren: creatura pro creatore. Die Entstehung des israelitischen Schöpfungsmythos verweist eindeutig auf die staatlich verfaßten Gesellschaften der altorientalischen Hochkulturen.

Auch der Begriff der Sünde ist konzipiert als ein Vergehen der Majestätsbeleidigung. Dies ist nicht abschwächbar, wenn Gutiérrez vom "Bruch der Freundschaft mit Gott" spricht. Sünde ist Ungehorsam gegen den majestätischen Willen Gottes: Auflehnung der Kreatur gegen ihren Schöpfer, eine Untat, für die es eigentlich nur eine Strafe gibt: die vollständige Vernichtung der Schöpfung, zu welcher Gott ja auch verschiedene Anläufe nimmt. Da die Sünde eine absolute Untat ist und da die eigentlich verwirkte Strafe durch keine Anstrengung des Menschen aufgehoben werden kann, muß Gott, um seine Geschöpfe leben zu lassen, die Strafe an sich selbst vollziehen. Das heißt, er stirbt in Gestalt seines Mensch gewordenen präexistenten Sohnes stellvertretend für die Schöpfung.

An dieser wahrhaft psychopathisch zu nennenden Lehre hat sich seit etwa 1900 Jahren in ihrem Kern nichts geändert. Und man muß sie den Menschen immer wieder vor Augen führen, damit sie wissen, was die Grundlage der sanften Kirchlichkeit ist, die viele so behaglich finden.

Diese Lehre gilt es als das zu zeigen, was sie ist: ein barbarischer Mythos mit barbarischen Konsequenzen. Alle aufgeklärten Geister aller Jahrhunderte haben diese Lehre als widersinnigen Irrsinn bezeichnet. Jean Bodin, der große Staatsrechtler des 16. Jahrhunderts, hat die Erlösungslehre unnachahmlich in ihren Grundzügen karikiert:

"In der Tat, ist jemand so beschränkt in seinen geistigen Fähigkeiten, daß es ihm möglich erscheint, daß der ewige Gott, der ... seit unendlichen Zeiten gelebt hat, vor nicht allzu langer Zeit vom Himmel herabglitt und sich im Leibe einer jungen Frau neun Monate versteckte und dann, angetan mit Fleisch, Knochen und Blut und geboren von einem jungfräulichen Körper, nach einer kleinen Weile einen schimpflichen Tod erlitt, begraben wurde und wieder auferstand und diese Körpermasse zum Himmel ... mitnahm?" (S. 327/249 ff.)

Dies ist, fast wörtlich paraphrasierend, der zweite Glaubensartikel. Und das ist auch die religiöse Grundlage der Theologie der Befreiung.

Und damit sind wir am Schluß am Kern der Kritik jeder Religion und Theologie angelangt: Es ist unsere feste Überzeugung, daß auf dem Boden der Irrationalität, auf dem Boden des Mythos keine rationale Politik, keine wahre Befreiung des Menschen geschehen kann.

"Die Kritik des Himmels ist die Voraussetzung für die Kritik der Erde", diese Einsicht von Karl Marx hat nichts von ihrer Aktualität eingebüßt. Auch wenn für die Tagespolitik es so scheinen mag, als hätte sich die christliche Religion gewandelt, auch wenn einige Vertreter, wozu ich gerne und ohne Zögern Gutiérrez rechne, diese Irrationalismen unbeschädigt zu überstehen scheinen, so liegt die Gefahr im Irrationalismus selbst, im religiösen Wahn, der dem Menschen die Herrschaft über sich und die Welt bestreitet.

Neben dem zu sich selbst befreiten Menschen gibt es keinen Platz für einen Gott. Und anders: Wo es noch einen Platz für einen Gott gibt, ist der Mensch noch nicht zu sich selbst gekommen. Nicht ohne Bedacht lautet eine Strophe der Internationale:

"Es rettet uns kein höher Wesen, kein Gott, kein Kaiser, kein Tribun."

Kampf gegen entfremdende Herrschaft ist immer auch Kampf gegen Religion, denn was ist und was kann entfremdender sein, als der Glaube an einen Gott, dem ich mich verdanke?

Aus der Diskussion

In der teilweise recht turbulent verlaufenden Diskussion war Hauptansatzpunkt der Kritiker des Referenten die Relevanz der Religions- und Theologiekritik für einen konkreten politischen Kontext, etwa den der nikaraguanischen Revolution. Der Referent stellte klar, daß Ansprechpartner einer solchen Kritik nicht der nikaraguanische Bauer, sondern der Intellektuelle etwa in Mitteleuropa sei. Hier hat eine solche Kritik allerdings auch - darauf wies noch ein späterer Beitrag hin - ihre praktische politische Bedeutung.

Ein Diskussionsredner gab zu bedenken, daß uns die nichttheologische Reflexion ja auch nur die Einsicht in unsere Determiniertheit, also Unfreiheit vermitteln könne. Insofern nähmen sich theologische und nichttheologische Reflexion in bezug auf das Problem der Freiheit nur wenig. Der Referent hielt dem entgegen, daß diese Einsicht in unsere Determiniertheit (auch wenn sie als Einsicht im gleichen Sinne wiederum determiniert sei) etwas anderes sei als die irrationale Furcht, die aus der Religion komme. Sie schaffe ein - zugegebenermaßen geringes - Maß an Freiheit.

In Erwiderung auf verschiedene Diskussionsbeiträge nannte der Referent noch einmal wesentliche Zielsetzungen seines Vortrags: zum einen die rationale Destruktion mythologischen Denkens im theologischen Gewande, zum anderen - dies in Erwiderung auf den Beitrag eines erklärten Theologen - das Messen der Theologie an einem ihrer seit Origenes sichtbaren Ansprüche, nämlich dem einer (relativen) rationalen Durchsichtigkeit. Insofern sei der Rekurs auf die alleinige Erwägung des politischen Effekts der Theologie der Befreiung oder einer Kooperation mit ihren Vertretern - soweit dieser Rekurs von Theologen vorgenommen werde - ein Zurückfallen auf Positionen, die die Theologie selbst schon lange überwunden habe. Der Referent bedauerte in einem Schlußwort die Abwesenheit theologisch kompetenter Diskussionsteilnehmer.

Hamburg

Am 20. Juni 1985 organisierte die Studentengruppe des IBKA Hamburgs eine Vortrags- und Diskussionsveranstaltung mit dem gleichen Referenten zum gleichen Thema. Den über 1500 Flugblättern und etwa 200 Plakaten, die hauptsächlich an der Universität und in einem Stadtteil verteilt und verklebt worden waren, folgten etwa 75 Interessierte, die den kleinen Hörsaal der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät fast füllten. Das Referat von Prof. Kehrer fand allgemeine Zustimmung, so daß es in der anschließenden Diskussion fast nur noch um Detailfragen ging.

Verweise auf eine angeblich durch das Christentum begründeten Soziallehre, von einem Theologiestudenten vorgebracht, konnten schnell entkräftet werden. Statt dessen wurde in der etwas lahmen Diskussion herausgestellt, daß die Theologie der Befreiung in Europa dazu diene, fortschrittliche Kräfte mit Verweis auf Südamerika an die katholische Kirche zu binden.

Während der Veranstaltung wurden Unterschriften gegen den § 166 StGB sowie Spenden für die wegen Verstoßes gegen diesen Paragraphen mit Gerichtsverfahren Überzogenen gesammelt. Es konnten für über 60 DM aufklärerische Literatur und MIZ-Nummern verkauft und Kontakte zu religionskritischen Menschen aufgenommen werden. An einer anschließenden Kneipendiskussion beteiligten sich bis nach Mitternacht noch etwa zehn Personen.