Zu den jüngsten Morden an Säkularisten in der Türkei
Erklärung von Mitgliedern des Internationalen Bundes der Konfessionslosen und Atheisten und der American Atheists
Aus: MIZ 3-4/90
Mit großer Betroffenheit haben wir erfahren, daß vor wenigen Tagen Frau Prof. Bahriye Ücok in der Türkei ermordet wurde. Die 71jährige Sozialdemokratin und ehemalige Senatorin war Dozentin und Dekanin an der theologischen Fakultät in Ankara. Ihre Bücher beschäftigten sich kritisch mit der Rolle der Frau im Islam. Prof. Ücok wandte sich gegen eine Islamisierung der Hochschulen in der Türkei und hatte sich noch am 4. Oktober öffentlich gegen einen Gesetzentwurf ausgesprochen, der das Tragen einer Haarbedeckung für Studentinnen vorsah. Prof. Ücok starb in der Universitätsklinik, nachdem ihr eine Paketbombe Arme und Beine zerfetzt hatte. Zu dem Mord bekannte sich die islamisch-fundamentalistische Organisation "Islamische Bewegung".
Prof. Ücok ist bereits das elfte Opfer einer Serie von politisch-religiös motivierten Anschlägen, die seit Anfang dieses Jahres die Türkei überschatten. Zu den ersten Opfern zählte der bekannte Verfassungsrechtler Muammer Aksoy, der am 31. Januar vor seiner Wohnungstür in Ankara durch drei Schüsse aus nächster Nähe getötet wurde.
Der 73jährige Aksoy war Vorsitzender des Türkischen Rechtsinstitutes. "Noch nie in der Geschichte der türkischen Republik war die Gefahr religiös reaktionärer Massenbewegungen so akut wie heute. Die Scharia [das islamische Recht] bedeutet das Ende der Meinungsfreiheit in der Türkei", schrieb Aksoy wenige Tage vor seiner Ermordung. Auch zu diesem Mord hatte sich die "Islamische Bewegung" bekannt. Aksoy sei "wegen seiner Feindschaft zur islamischen Bekleidungsordnung bestraft worden", lautete ein Bekenneranruf. Mit dem Mord an Aksoy begann eine Terrorwelle, der am 4. September auch der laizistische Journalist und Schriftsteller Turan Dursun zum Opfer fiel. Seine 12bändige kritische Koran-Enzyklopädie fand aufgrund von Morddrohungen bereits keinen Verleger mehr in der Türkei. Und erst vor wenigen Tagen ging der kritische Verlag "Sosyal" in Istanbul in Flammen auf. Dutzende von Morddrohungen wurden gegen Schriftsteller, Professoren und Intellektuelle ausgesprochen - darunter auffallend viele Laizisten und Religionskritiker.
Mit den Anschlägen wurden Menschen getötet, die sich kritisch mit dem Islam auseinandersetzten. Damit soll langfristig eine Reflektion innerhalb des Islam, ein Prozeß der Reformation unterbrochen werden. Gleichzeitig werden auch jene eingeschüchtert, die sich vom Islam gelöst haben.
Als Konfessionslose und Atheisten, die im christlichen Europa vor nur wenigen Jahrhunderten mit ähnlicher Brutalität verfolgt wurden, möchten wir unsere Betroffenheit über diese Morde zum Ausdruck bringen. Die Attentate ersticken alle Versuche eines kritischen Dialogs mit dem Islam, sie vergiften die Atmosphäre im Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher Religion oder Weltanschauung, sie erzeugen ein Klima der Angst. Die Ermordung von Prof. Ücok zeigt, daß der Hinrichtungsbefehl gegen Salman Rushdie kein Einzelfall ist und daß die Drohungen islamischer Terroristen ernst genommen werden müssen. Obwohl hohe Politiker der Islamischen Republik Iran mehrfach die Gelegenheit nutzten, den Mordaufruf gegen Rushdie vor ausländischer Presse zu wiederholen, gingen die europäischen Staaten inzwischen zur Tagesordnung über. Großbritannien nahm unlängst die diplomatischen Beziehungen zum Iran wieder auf.
Dabei betreffen solche Morddrohungen längst nicht mehr nur Intellektuelle in Ländern mit islamischen Hintergrund, sondern auch in europäischen Staaten. Erst Anfang vergangenen Jahres wurde der oberste moslemische Geistliche der Beneluxländer al-Ahdal in Belgien erschossen. Mit ihm starb auch der Bibliothekar des islamischen Kulturzentrums Brüssel, Salem el-Behir. Eine pro-iranische Gruppe "Soldaten der Gerechtigkeit" bekannte sich damals in Beirut dazu, ein "Gottesurteil" an ihnen vollstreckt zu haben. Auch andere Moslemführer in Europa, die abweichende oder kritische Meinungen äußerten, wurden mit dem Tode bedroht.
Die arabische Zeitschrift An-Naqid, die in London erscheint, veröffentlichte 1988 eine Todesliste, die in sämtlichen arabischen Ländern auf Kassetten kursiert. Mit dieser Liste wurden "wegen Verrats am Islam" rund 50 bekannte Schriftsteller, Dichter und Philosophen der islamischen Welt "im Namen Allahs und des Propheten" offen mit ihrer Hinrichtung gedroht. Darunter befanden sich bekannte Namen, der Poet Adonis (Libanon), die Soziologin Prof. Fatima Mernissi (Marokko) oder Edward Khurat (Agypten). Auch der libanesische Denker Hassime M'roua und der linksintellektuelle Demokrat Mehdi Amal standen auf dieser Liste. Sie wurden inzwischen ermordet. Viele Intellektuelle aus islamischen Ländern leben bereits seit Jahren in Europa im Exil. Mit ihnen befürchten wir, daß ein Exil in Europa langfristig keine Sicherheit mehr bieten könnte.
Auch in der Bundesrepublik erhielten mehrere Journalisten und Rundfunkredakteure Morddrohungen. Ende 1987 gingen beispielsweise bei drei großen Tageszeitungen in der Bundesrepublik Morddrohungen ein, weil sie über die blutigen Ereignisse in der Pilgerstadt Mekka berichtet hatten. Morddrohungen erhielten auch Verleger und Verkäufer des Romans Satanische Verse. Seit einigen Jahren stuft der Verfassungsschutz einige islamische Gruppierungen als "politische Extremisten" ein. In Nordrhein-Westfalen wurde erst vor kurzem ein islamisch-fundamentalistischer Verein durch die Polizei aufgelöst und gilt seitdem als verboten.
Uns erscheint der politische Extremismus und der Fundamentalismus als Ausdruck einer tiefen Krise des Islam, an dem auch die westlichen Staaten nicht ganz unbeteiligt sind. Sie haben über Jahrzehnte korrupte Regierungen und säkulare Diktaturen unterstützt, die nur eine islamisch geprägte Opposition zuließ. Der Islam wurde so als politische Ideologie mißverstanden und von kleinen Oppositionsgruppen instrumentalisiert. Unserer Auffassung nach führt der islamische Fundamentalismus - ähnlich wie der politische Klerikalismus in Europa oder der protestantische Fundamentalismus in den USA - in eine Sackgasse. Der Internationale Bund der Konfessionslosen und Atheisten und die American Atheists rufen daher alle demokratischen Organisationen und Parteien auf, sich für den Schutz derjenigen einzusetzen, die von islamischen Terroristen bedroht werden. Ihnen muß selbstverständlich Asyl in unserem Land gewährt werden. Da sich die Morddrohungen nicht nur gegen "Ungläubige" richten, sondern vor allem gegen den kritischen Geist innerhalb des Islam, fordern wir alle moslemischen Vereine und Gemeinden auf, sich von den Morddrohungen und Attentaten islamischer Fundamentalisten in der Türkei offen zu distanzieren.
Berlin, 14. Oktober 1990
Nachtrag zur "Islamischen Bewegung"
Wie wir erst jetzt erfuhren, soll sich in der Bundesrepublik Deutschland eine türkische Gruppierung gleichen Namens gebildet haben. Sie spaltete sich im vergangenen Jahr von dem fundamentalistischen "Verband islamischer Vereine und Gemeinden" ab, der im November 1984 von Chemalettin Kaplan gegründet worden war (vgl. MIZ 2/90).
MIZ-Redaktion