Karlheinz Deschner: MEMENTO!

Vortrag zum "Großen Bußakt" des Papstes im Heiligen Jahr 2000

Lesung im Kulturzentrum "Bahnhof Langendreer" in Bochum am 3. November 1999

Aus: IBKA Rundbrief Juli 2000

Der bekannte Kirchenhistoriker Karlheinz Deschner, bei dem sich laut Ankündigung der Lokalzeitung "die Geister scheiden", dem aber, da er vorzugsweise aus christlichen Quellen zitiert, zum Leidwesen der Kirchen keine Falschdarstellung nachgewiesen werden kann, hatte am Mittwoch, den 3. November 1999 einen Auftritt in der Halle des Kulturzentrums "Bahnhof Langendreer" in Bochum. Eingeladen hatten ihn die JungdemokratInnen/Junge Linke.

Gespannt wartete das Publikum auf sein Erscheinen. Auf Deschner, dessen "hasserfüllte Augen" (Manfred Lütz, Theologe und Psychologe) so viele Kirchengläubige erregen; Deschner, dem als Motiv seiner Arbeit Rache nachgesagt und Selbstdarstellung unterstellt wird.

Herein kam ein Mann, der so gar nicht in dieses Klischee passte. Seinen Augen ließen sich viele Beschreibungen zuordnen: verschmitzt, etwas traurig, gütig, aber auf keinen Fall "hasserfüllt". Deschner ist ein einfacher, bescheidener, schlichter Mann, von Selbstdarstellung und Schau keine Spur.

Die Sitzreihen im Bahnhof waren nur gut zur Hälfte gefüllt, trotz einer nicht unbedingt kleinen Ankündigung im Kulturteil der Lokalzeitung. Geduldig warteten wir noch auf Nachzügler. Ein Besucher meinte sarkastisch ob dieser geringen Nachfrage: "Warum sollten hier auch mehr hinkommen als in die Kirche!?" Wohl wahr. Die Leute pilgern eher in Scharen nach Marpingen, lassen sich eine Marienerscheinung vorschwindeln und das Geld aus der Tasche ziehen, als dass sie zu einer kostenlosen Veranstaltung kommen, in der real existierende Verbrechen der Kirche aufgedeckt werden.

Und dies hat der mittlerweile 75-jährige Karlheinz Deschner akribisch getan in seinen bisher erschienenen sechs Bänden der "Kriminalgeschichte des Christentums" und den vielen weiteren kirchen- und religionskritischen Büchern und Essays. Anlass seiner Vorlesungsreise, die ihn auch in zwei Städte des Ruhrgebiets, eben Bochum und Duisburg - dort gab es an der Universität gleich eine "Antiklerikale Woche" - führte, ist der große Bußakt des Papstes, der dieses Jahr, im "Heiligen Jahr" 2000, vollzogen wurde. "Mea culpa" wollte der Papst sagen, "wir sind schuld". An vielen Verbrechen, die er bekennen wollte. Die Kirche, die ihre Opfer noch nie entschädigt hat, wollte Buße tun, natürlich nur im Geiste. Das sieht gut aus, das ist gut fürs Geschäft.

Deschner hatte sich gedacht, wer kann da besser helfen als er, der so viele Verbrechen der Kirche in seinen Büchern festgehalten hat. So schreibt er in seinem neuen Buch "Memento!" (Gedenke!), das im Dezember herauskam, einen Brief an den Papst, der so beginnt: Mein Beitrag kommt vielleicht nicht sehr erwünscht, verzeiht ...

Die Zuhörer grinsten.

In dem Brief zählt Deschner, ironisch Verständnis heuchelnd, die vielen unsäglichen Verbrechen der Kirche im Laufe der zwei Jahrtausende auf. Da geht es um Judenverfolgung, Verfolgung Andersgläubiger, Andersdenkender, Hexenverbrennung, Inquisition, Kriege, die ständig geführt werden mussten, auch von den Päpsten und gerade von den Päpsten, bis hin zu den Verbrechen in diesem Jahrhundert im Einklang mit den Faschisten.

Zum Schluss kommt Deschner in dem Brief allerdings zu dem Fazit und zu dem Rat an Papst Johannes Paul II., dass alle Entschuldigung, alle Bußen doch sinnlos sind, da selbst der schuldbewusste Papst täglich neue massive Schuld auf sich lädt. Und neue Verbrechen begeht, jetzt und in Zukunft, so durch seine restriktive Sexual- und Familienpolitik.

Die Zuhörer waren beeindruckt. Verstanden die feine Ironie des Briefeschreibers. Nur einige, von Martin Budich - dem Veranstalter - persönlich eingeladene Theologiestudenten guckten etwas verbissen vor sich hin.

Aber weiter ging es. Deschner gönnte sich und dem Publikum keine Pause, um die Verbrechen der Kirche aufzuzählen. Ohne zwischendurch vom gereichten Wasser zu trinken, legt er sein Manuskript beiseite und griff sich den sechsten Band seiner "Kriminalgeschichte des Christentums", der vom 11. und 12. Jahrhundert handelt, von Heinrich II., dem "Heiligen", bis zum Ende des Dritten Kreuzzuges, um daraus ein Kapitel über den Ersten Kreuzzug nach Jerusalem zu lesen. Ein Kreuzzug, der als Triumph der Christenheit gefeiert wurde. Ein Kreuzzug, bei dem alle Andersgläubigen in Jerusalem von den Christen niedergemetzelt worden sind, abgeschlachtet, Männer, Frauen und Kinder.

"Jeder Plünderer", schreibt der Erzbischof von Tyrus, "erklärte das Haus, das er gerade betreten hatte, mit seinem ganzen Inhalt für sein eigen bis in alle Ewigkeit. Denn vor der Einnahme der Stadt hatten die Pilger ausgemacht, daß nach ihrer gewaltsamen Eroberung dasjenige, was jeder von ihnen in Besitz nehmen würde, auf Grund des Besitzrechtes unangefochten für immer sein bleiben sollte. Folgerichtigerweise (!) gingen die Pilger höchst sorgfältig (!) vor und töteten dreist jeden Einwohner." Jerusalem wurde entleert von allen Moslems und Juden.1

Kein damaliger christlicher Chronist verspürte Gewissensbisse; Erzbischof Wilhelm sprach schlicht vom "Ende der Pilgerfahrt". Die Christen sollen so gewütet haben, dass ihre Pferde bis zu den Knien im Blut stakten. Während Rom sich unter Päpsten wie Gregor I. oder Johann VIII. bei sarazenischen Eroberungen durch Tributzahlungen loskaufen konnten, ließen sich die von Rom geschickten "Pilger" auf kein Geschäft ein. Die nächsten- und feindesliebende Christenheit hatte kein Erbarmen. Die jüdische Synagoge stopfte man randvoll mit Menschen, um sie dann anzuzünden. Nach ihrem Gemetzel und Blutrausch, gingen sie zum "Grab des Herrn" und dankten Gott - nachdem sie unmittelbar zuvor sechzig- bis siebzigtausend Sarazenen ermordet hatten.

Nach dieser schrecklichen Schilderung der Geschehnisse prangert Deschner in seinem Buch vor allem die Kirchenhistoriker an. Er klagt sie an der Verharmlosung bzw. der Verherrlichung. Noch Mitte des 19. Jahrhunderts urteilt das mit Imprimatur erschienene katholische "Kirchen-Lexikon" von Wetzer/Welte beim Vergleich der verschiedenen Kreuzzüge, dass "die Reinheit der frommen Begeisterung hauptsächlich im ersten" zu finden ist. Deschner prangert aber auch die christlichen Kirchenhistoriker unseres Jahrhunderts an, die teilweise immer noch verharmlosen. Die Kirchengeschichte des Theologen Neuss teilt über das blutige Ereignis nur noch mit: "... am 15. Juli wurde die Stadt eingenommen." Und der Jesuit Herling berichtet genauso dürftig: "Das erste Ziel der Kreuzzüge war erreicht." Selbst noch 1998 rühmt der bekannte Historiker Horst Fuhrmann den Kreuzzug Papst Urbans "Meisterstück der Inszenierung", spricht von der "Begeisterung" der Massen, und es klingt nach Bedauern, wenn er schreibt: "Der Erfolg des ersten Kreuzzugs, der am 13. Juli 1099 die Eroberung Jerusalems brachte, ist in den folgenden Jahrhunderten nie mehr überboten worden. Die weitere Geschichte des christlichen Heiligen Landes ist nichts anderes als die deprimierende Chronik seines schrittweisen Untergangs...".2

Während der Beschreibung der Geschehnisse in Jerusalem war den Zuhörern im Bahnhof das Lächeln, dass ihnen noch beim Vorlesen des Briefes an den Papst überkommen ist, im Gesichte eingefroren. Zu grausam sind die Bilder, die vor dem inneren Auge ablaufen. Der Initiator des Ersten Kreuzzuges, Papst Urban II., wurde dafür - oder wofür sonst?, fragt Deschner - 1881 selig gesprochen. Aber Karlheinz Deschner rechnet fest mit dessen Heiligsprechung: "Steckt er ja so tief im Blut, daß er eines Tages auch heiliggesprochen werden wird - nein: werden muß! Wie alle seinesgleichen".3

Nach dem Vortrag aus dem sechsten Band der Kirchengeschichte liest Deschner uns noch einige seiner unzähligen, bissigen Aphorismen vor. Er beginnt mit Politik ("Denkmal: oft zu spät gesteinigter Staatsmann, von Tauben beschissen."; "Demokratie ist die Kunst, dem Volk im Namen des Volkes feierlich das Fell über die Ohren zu ziehen."), prangert weiter mit seinen Aphorismen das Verhalten des Menschen gegenüber der unschuldigsten Kreatur, dem Tier, an - Deschner ist Vegetarier - ("Tierfreunde: erst Lämmchen streicheln, dann Lammbraten; erst den Angler anpöbeln, dann Forelle blau. Jäger mögen sie nicht Wildbret."; "Moralische Bedenken gegen Kalbsbraten? Von seiten der Erzieher nicht. Von seiten der Jurisprudenz nicht. Von seiten der Moraltheologie nicht. Von tausend anderen moralischen Seiten ebenfalls nicht. Von der des Kalbes vielleicht?") und geht schließlich über zu Aphorismen über Religion und Kirche ("Kirche - eine Praxis, die krank macht, um heilen zu können; die in Nöten hilft, die man ohne sie gar nicht hätte; das Gängeln derer, die noch glauben, durch jene, die es nicht mehr tun."; "Die Heiligenlegenden entlarvte Luther als Märchen. An den Bibellegenden hielt er fest; am Teufelsglauben auch; am Hexenwahn auch; an der Ketzervertilgung auch; am Antisemitismus auch, am Kriegsdienst, an der Leibeigenschaft, den Fürsten. Man nennt es: Reformation.").4

Spätestens hier fanden die Zuhörer auch das Lachen wieder.

Martin Budich erklärte nach dem Ende der Lesung, dass Karlheinz Deschner sich nicht, wie früher üblich, auf eine Diskussion mit dem Publikum über das Vorgetragene einlassen wollte. Das sei ihm mittlerweile zu mühselig, zu zeitraubend, dafür ist ihm jetzt die Zeit zu schade, da er doch noch so viele Jahrhunderte Kirchengeschichte aufarbeiten muss. In der Zeit, die ihm noch verbleibt.

Nichtsdestotrotz ist er mit den interessierten Zuhörern noch auf Bier und Wein nach nebenan in die Kneipe gegangen, wo sich an einem großen, langen Tisch eine gemischte Runde zusammenfand. Leider war es in der Gaststätte zu laut und Deschners Stimme zu leise, um hier noch gemeinsam über das Gehörte zu reden.

Auf der Speisekarte stand unter anderem Lammbraten - aber plötzlich sind alle zu Vegetariern geworden ... zumindest für einen Abend.

HJ

Anmerkungen:

1 Karlheinz Deschner, Kriminalgeschichte des Christentums, Band 6, 1999.

2 ebd.

3 ebd.

4 Aphorismen zu finden in: Karlheinz Deschner, Bissige Aphorismen, 1994