Soziale Grundrechte statt Almosensysteme

Werner Hager

Wessen Aufgabe ist es, Sozialsysteme zu betreiben? Dass Sozialsysteme unter den Bedingungen des industriellen Kapitalismus notwendig sind, darüber herrscht seit mehreren Jahrhunderten weitgehender Konsens. Ob diese jedoch ein Anspruch des Einzelnen gegenüber der Gesellschaft sind oder ob dieser vom Gutwillen von Spenderinnen oder Spendern oder einem ausgebauten Stiftungswesen abhängt, ist damit noch nicht geklärt. In Deutschland ist ein Großteil des Sozialsystems den Kirchen übertragen, obwohl der Betrieb selbst wiederum staatlich finanziert wird.

Zwei Systeme stehen sich hier gegenüber: Das Charitysystem – zu dem Caritas und Diakonie historisch gehören – in dem Menschen altruistisch entweder Geld oder Zeit freiwillig zur Verfügung stellen und ein sozialstaatliches System, welches steuerfinanziert Leistungen anbietet, auf die der Einzelne einen Anspruch hat.

Trotz der Namensgleichheit sind Caritas (=Charity) und Diakonie heutzutage bis auf wenige Prozent staatlich finanzierte Systeme, die bis auf die Bereiche, in denen sie ihre Sonderrechte behaupten können, letztlich staatliche Aufgaben ausführen. Dennoch verbreiten sie weiterhin den Eindruck, die Aufrechterhaltung von Sozialleistungen sei weiterhin ihr Verdienst und stärken so die Anerkennung von Charity-Systemen.

Wie bei allen Systemen geht es um Legitimation. Systeme schaffen sich Legitimation, indem Menschen an ihnen teilnehmen und sie danach als unverzichtbar gelten.

Unter Schlagwörtern wie „schwarze Null“ oder „schlanker Staat“ werden Lebensrisiken privatisiert und globale Verantwortlichkeiten wie die Erreichung der Milleniumsziele zurückgestellt. Privates Vermögen soll stattdessen durch höhere Spendenbereitschaft, steuerliche Absetzbarkeit und das Gefühl, zu helfen, aktiviert werden.

Dass Menschen in der bürgerlichen Gesellschaft auch jenseits ihrer Steuerverpflichtung tätig werden, ist tatsächlich notwendig.

Veränderungen erfordern es, dass Einzelne Vorstellungen entwickeln, initiativ tätig werden, Öffentlichkeit schaffen und durchaus auch Geld zur Verfügung stellen. Dies ist wünschenswert.

Charity-Systeme werden aber auch an Stellen tätig, die durchaus als gesellschaftliche Aufgabe Konsens sind. Sie bilden Stiftungen heraus, die zwar eine wesentliche gesellschaftliche Funktion erfüllen, aber der gesellschaftlichen Gestaltung entzogen sind.

Gleichzeitig entsteht ein Interesse beim Staat, diese Form des ihn entlastenden „ehrenamtlichen Engagements“ zu fördern. Und die Kirchen bieten sich als diejenigen an, die genau dieses Handeln fördern.

Für den einzelnen Bedürftigen haben diese Charity-Systeme auch eine Konsequenz: Er oder sie tritt als Bittsteller oder Bittstellerin an sie heran. Nicht als Trägerin oder Träger von Grundrechten. Ob sie es intendieren oder nicht: Sie sind Akteure bei der kommunitaristischen Infragestellung eines auf das Individuum bezogenen Verständnisses von Freiheit.

Der von nationalen Wettbewerbsstaaten betriebene Versuch, privates Kapital für öffentliche Zwecke zu aktivieren erweist sich eben auch als Schwächung des Prinzipes eines für alle gültigen Rechtes. Und damit der gleichen Freiheitsrechte sowie formalen wie sozialen Grundrechte.

Politisch ergeben sich für mich hieraus mehrere Konsequenzen:

  • Genau hinzuschauen, wenn es um die Absetzbarkeit von Spenden geht (Abgabenordnung)
  • Aufpassen, dass das Stiftungswesen nicht ausufert und keinesfalls systemrelevant wird
  • Bewusstsein über den Doppelcharakter von Charity-Systemen zu schaffen
  • Aufzupassen, wenn Parteien oder andere gesellschaftliche Akteure versuchen, die soziale Infrastruktur zu privatisieren
  • Aus säkularer Sicht Vorstellungen zu entwickeln, wie Sozialsysteme aussehen können, die „One Law for All“ genügen.