AG Migration, Integration, Religionen
Workshop 2 der Tagung "Leitkultur Humanismus und Aufklärung" 2005 in Köln
Bericht von Gunnar Schedel
Referenten: Steffen Rink, Dr. Vogelgesang, Frank Welker; Moderation: G. Schedel In den letzten Monaten waren es vor allem Frauen muslimischer Herkunft, die in ihren Veröffentlichungen ins Bewusstsein gerufen haben, dass Religion auch in Deutschland im Jahr 2005 sehr konkret und sehr nachhaltig ins alltägliche Leben eingreifen kann, indem sie auf die Situation muslimischer Frauen hingewiesen haben. Dabei geht das Problem „importierter“ Religiosität weit über Schleier, Zwangsheirat und Ehrenmord hinaus. Denn in den vergangenen Jahrzehnten sind Millionen Menschen unterschiedlichster religiöser Sozialisation eingewandert (insgesamt leben in Deutschland rund 14 Millionen mit migrantischem Hintergrund) und haben ihre teilweise sehr stark von der Religion bestimmten sozialen Gewohnheiten mitgebracht. Trotzdem haben sich die Verbände der Konfessionslosen bislang kaum mit der Frage auseinandergesetzt, welche Perspektiven und Schwierigkeiten sich daraus für eine säkulare Gesellschaft ergeben können. Einen ersten Problemaufriss sollte die Arbeitsgruppe „Migration, Integration, Religionen“ erarbeiten. Der Religionswissenschaftler Steffen Rink (REMID e.V.) gab zunächst einen Überblick über die religiöse Zusammensetzung der Migranten und den Umgang bisheriger staatlicher Integrationskonzepte mit dem Faktor „Religion“. Anschließend stellten Waldemar Vogelgesang und Frank Welker anhand eines Beispiels die konkrete Lebenswelt von Einwanderern mit „abweichender“ religiöser Ausrichtung dar. Da die Debatte das Problem häufig auf den Islam verengt (und zudem oft genug mit einem rassistischen Unterton geführt wird), war mit russlanddeutschen Evangelikalen bewusst ein Beispiel aus dem Bereich der christlichen Sondergemeinschaften gewählt worden. Mit Steffen Rink hatte die Vorbereitungsgruppe einen Referenten eingeladen, der durch seine Arbeit im Netzwerk Migration und Religion sich bereits intensiv damit befasst hatte, welche Rolle Religion für Migranten und ihre Integration spielen kann. Insofern stellte er in seinem „Über Empowerment, Integration und staatliche Religionspolitik“ betitelten Vortrag auch nicht die aus einer säkularen Perspektive bedenklichen Punkte in den Vordergrund, sondern lenkte den Blick auf den Aspekt der Integration. Bis Ende der 1990er sei (unabhängig von der politischen Richtung der jeweiligen Bundesregierung) das Konzept „Integration durch Sozialpolitik“ verfolgt worden. Religion als Teil des Lebens von Migranten sei von staatlicher Seite nicht gesehen worden und auch der „interreligiöse Dialog“ habe sich um lebensweltliche Fragen kaum gekümmert. Da es in all den Jahren nur unzureichend gelungen ist, die Arbeitsmigranten und ihre Familien wirklich zu integrieren, spielt Religion heute für viele eine wachsende Rolle. Einerseits lässt sich dies darauf zurückführen, dass sie für die Definition der eigenen Identität an Bedeutung gewinnt, andererseits kommt den Moscheen als Anlaufstellen, wo sich auch ursprünglich kaum religiöse Einwanderer mit „Landsleuten“ treffen können, in einer als abweisend erfahrenen Umgebung eine wichtige soziale Funktion zu. Die vergangene rot-grüne Bundesregierung versuchte, dieser Entwicklung Rechnung zu tragen und den lauter werdenden Forderungen vor allem der muslimischen Gemeinschaften nach Anerkennung im politischen Raum entgegenzukommen. Das Konzept der „Selbstorganisation“, namentlich verknüpft mit der Integrationsbeauftragten Marie-Luise Beck, stellt ihnen (sofern sie Gremien errichten, die minimalen demokratischen Anforderungen genügen und als verlässliche Ansprechpartner erscheinen) Anerkennung und Zusammenarbeit im Rahmen der selbstgewählten Strukturen in Aussicht. Mittelfristig, so die Einschätzung von Steffen Rink, wird dies dazu führen, dass die Religionsgemeinschaften, so sie groß genug sind, im Bildungs- und Sozialbereich das Subsidiaritätsprinzip nutzen und wie die beiden christlichen Kirchen ein Netz eigener Einrichtungen aufbauen werden. Die Konflikte zwischen säkularer Gesellschaft und „importiertem Puritanismus“ standen im Mittelpunkt des zweiten Referats, das die einschlägigen Ergebnisse einer Untersuchung der Lebenswelt russlanddeutscher Einwanderer, die einer baptistischen Strömung angehören, vorstellte. Die zu beobachtende weitgehende Abschottung der Gemeinden bezeichneten die Referenten als „bedingt freiwillige Segregation“. Die vorhandene Tendenz, sich von der „sündigen“ Umgebung zurückzuziehen, werde verstärkt z.B. durch die Sprachprobleme gerade der jüngeren Russlanddeutschen. Sehr eindrücklich waren die Schilderungen des als „tugendhaft“ bewerteten Lebenswandels in der Baptistengemeinde, der geprägt ist von extremer Diesseitsfeindlichkeit und einer streng patriarchalen Ordnung (vgl. den Beitrag von Waldemar Vogelgesang in MIZ 3/05). Die Beschränkung auf die eigene Gemeinschaft, die einen hohen Grad an sozialem Zusammenhalt aufweist, hat als Kehrseite zur Folge, dass Kontakte nach „außen“ möglichst unterbunden werden. Das trifft auf die persönliche Lebensplanung der Mitglieder (z.B. die Auswahl des Ehepartners) ebenso zu wie auf die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben (z.B. kommt ein Großteil der „Schulverweigerer“ aus dem Spektrum russlanddeutscher Evangelikaler). Als ausgesprochen problematisch erweist sich der Versuch, aus dieser abgeschlossenen Welt auszubrechen. Wie aus anderen kleinen Glaubensgemeinschaften bekannt, droht Aussteigern der weitgehende Verlust aller bisherigen sozialen Kontakte. Hinzu kommt, dass der Schritt aus einer sehr stark reglementierten Welt in eine Welt, die permanent eigene Entscheidungen erfordert, gerade Jugendliche häufig überfordert. So steht am Ende des erhofften Wegs in die Freiheit oft genug die „reumütige“ Rückkehr in die Gemeinschaft oder der Konflikt mit dem Gesetz. Auf die Frage, ob sich durch das Leben in einer säkularen „Umwelt“ die Abschottung und die extreme christliche Orientierung aufweichen könnten, antworteten die Referenten mit wenig Optimismus: Solche Tendenzen seien bislang nicht zu erkennen. In der Diskussion wurde u.a. erörtert, inwiefern tatsächlich bereits von der Ausbildung von Parallelgesellschaften gesprochen werden könne. Während Vogelgesang & Welker dies für die Russlanddeutschen verneinten (auch wenn es um rund 600.000 Menschen gehe, seien die einzelnen Gemeinden zu klein, um komplett eigene Strukturen zu schaffen, zudem arbeiteten die meisten in Betrieben „draußen“ und auch die allermeisten Kinder besuchten noch die staatliche Regelschule), sah Rink diese Entwicklung im Bereich muslimischer Einwanderer in manchen Städten als gegeben an. Allerdings seien diese Parallelgesellschaften ethnisch und nicht religiös geprägt. Auch wenn sich beobachten lasse, dass die ethnische Bindung abnehme und der Islam für die Selbstdefinition eine immer bedeutendere Rolle spiele, sei Religion keine notwendige Bedingung. Für die Bewertung einer solchen Parallelgesellschaft sei wichtig, wie sie ganz konkret organisiert sei. In den abschließenden Statements betonte vor allem Steffen Rink, dass nach seiner Einschätzung Deutschland in 20 Jahren weniger säkular sein werde als heute, weil die Religionsgemeinschaften zunehmend offensiver eine gesellschaftliche Rolle einfordern. Und da die beiden christlichen Großkirchen mit zahlreichen Privilegien ausgestattet sind, werden unter dem Gesichtspunkt der Gleichberechtigung viele jener Forderungen erfüllt werden (müssen). Die Gefahren, die sich aus einer solchen Entwicklung für unsere Gesellschaft ergeben, in der – allen Einschränkungen zum Trotz – immer noch das säkulare Paradigma vorherrscht, sind offensichtlich. Gerade die Feststellung, dass auch wenig religiöse Migranten mangels Alternative die Moschee als „soziales Zentrum“ nutzen, erfordert Gegenstrategien. In den letzten Monaten sind in Berlin und in Hessen zwei Vereinigungen säkularer Türken gegründet worden; eine Kontaktaufnahme könnte zeigen, ob die Verbände der Konfessionslosen hier einen Bündnispartner finden können. Das Interesse an diesem Politikfeld scheint allerdings begrenzt zu sein. Nicht allein, dass diese Arbeitsgruppe schlecht besucht war, gibt zu denken; die IBKA-MV und auch die Debatten der Tagung waren sehr stark von der Vorstellung geprägt, dass die säkulare Gesellschaft durch juristische Maßnahmen herbeigeführt werden könne. Ganz abgesehen davon, dass eine dafür notwendige parlamentarische Mehrheit nicht in Sicht ist, zeigt sich am Themenbereich Migration/ Integration, dass Religionen ganz ohne staatliche Privilegierung an Bedeutung für eine Bevölkerungsgruppe gewinnen können. Wer sehr genau hinschaut, könnte den Eindruck gewinnen, dass die soziale Praxis wichtiger ist als die rechtlichen Rahmenbedingungen, und der Hebel folglich auch dort angesetzt werden müsste. Dazu freilich wäre es aber notwendig, aus dem Wolkenkuckucksheim der ganz großen Würfe zu den Mühen der Ebene herabzusteigen.