EU-Verfassung Artikel I-51 - Kirchenstatus darf Verteidigung von Menschenrechten nicht behindern!

IBKA fordert weltanschaulich-religiöse Neutralität staatlicher Organe ein und warnt vor Fortbestand von Diskriminierungen und Menschenrechtsverletzungen durch Kirchen und kirchennahe Einrichtungen.

Sehr geehrte Damen und Herren,

der Internationale Bund der Konfessionslosen und Atheisten e.V. ist äußerst besorgt, dass Artikel I-51 - sofern er wie vorgeschlagen in die EU-Verfassung aufgenommen wird - zur Fortdauer und Ausweitung bestehender Missstände in EU-Ländern führen könnte: zu Verletzungen von individuellen Menschenrechten sowie zur Verletzung von Prinzipien, die aus den Menschenrechten hergeleitet sind: dem Prinzip der Nicht-Diskriminierung und dem Prinzip der weltanschaulich-religiö­sen Neutralität staatlicher Organe.

Artikel I-51 Absatz 3 erweckt gar den Eindruck, als sollten Verletzungen der weltanschaulich-religiösen Neutralität  auch auf EU-Ebene implementiert werden. Dieser besondere Artikel ist überflüssig, wenn der Dialog mit den Kirchen und den Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften nur in dem Maße gepflegt werden soll, wie es ja bereits nach Artikel I-46 Absatz 2 den Organen der Union aufgetragen ist. So jedoch entsteht der Eindruck, als sollten Kirchen und Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften gegenüber sonstigen NGOs durch einen besonders intensiven Dialog und damit durch besondere Einfluss­möglichkeiten privilegiert werden. Privilegien, für die es keine Rechtfertigung gibt.

Betroffen von Entscheidungen der EU sind die Mitglieder dieser Gemeinschaften in aller Regel nicht mehr als alle anderen EU-Bürger. Wo Sachverstand gefragt ist, da gibt es keinerlei Grund, den Kirchen und Religions­gemeinschaften in den verschiedensten Fragen automatisch mehr Sach­verstand zuzuschreiben als anderen Vereinigungen, die sich auf bestimmte Sachgebiete konzentrieren. Insbesondere gibt es keinen Grund, den oftmals hierarchischen und wenig demokratischen Institutionen der Kirchen und Religions­gemeinschaften in Fragen der Ethik besonderen Sachverstand zuzuschreiben. Einige sind ja nicht einmal auf dem ethischen Niveau der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 angekommen; so sperrten sich die Kirchen in Deutschland gegen die Einführung eines Antidiskriminierungs­gesetzes, das Diskriminierungen aufgrund der Religion verboten hätte.

Soweit die gesamtgesellschaftliche Bedeutung einer Vereinigung als Anlass zum Dialog angesehen wird, kann das für religiöse und weltanschauliche Vereinigungen in gleicher Weise gelten wie für jede andere NGO. Dafür genügt Artikel I-46. Soll durch Artikel I-51 Absatz 3 etwa die schwindende gesamtgesellschaftliche Bedeutung der Kirchen durch eine Steigerung privilegierter Einflussnahme strukturell konterkariert werden? Ein solches Privileg würde gegen die gebotene weltanschaulich-religiöse Neutralität verstoßen.

Dass Weltanschauungs­gemein­schaften an einem solchen Privileg teilhaben, genügt nicht zur Herstellung dieser Neutralität. Es dürfen auch jene Menschen nicht benachteiligt werden, die keiner Religions- oder Weltanschauungsgemeinschaft angehören oder den Schwerpunkt ihrer Aktivitäten in Vereinigungen verlegen, in denen Menschen mit unterschiedlichen Weltanschauungen gemeinsame Ziele verfolgen. Diese Menschen müssen die gleichen Chancen zur Mitwirkung an Entscheidungsprozessen haben - also müssen weltanschaulich neutrale Vereinigungen gleiche Chancen zur Mitwirkung an Entscheidungsprozessen haben.

Weltanschaulich-religiöse Neutralität, Menschenrechte und Nicht-Diskriminierung müssen nicht nur auf der Ebene der EU gelten, sie müssen auch in den einzelnen Mitgliedstaaten durchgesetzt werden. Dazu muss es nicht unbedingt gemeinsame Regelungen zum Umgang mit Kirchen und Religions- und Weltanschauungs­gemeinschaften geben. Aber die EU muss die Möglichkeit haben, die Regelungen der einzelnen Mitgliedstaaten zu überprüfen und, soweit erforderlich, diese Mitgliedstaaten zu beauftragen, ihre Regelungen dahingehend zu ändern, dass sie im Einklang stehen mit den Menschenrechten, dem Prinzip der Nicht-Diskriminierung und der weltanschaulich-religiösen Neutralität.

Der IBKA befürchtet, dass die Durchsetzung dieser Ziele erheblich behindert werden könnte, falls in der Verfassung der EU durch Artikel I-51 Absatz 1 ausdrücklich die ^ÄAchtung^Ó des Status der Kirchen nach den Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten festgeschrieben würde.

In einigen Staaten der EU sind Änderungen durchaus erforderlich, nicht zuletzt in Deutschland. Auf den Prüfstand gehören hier rechtliche Privilegien von Kirchen und Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften: u. a. Möglichkeit, unter bestimmten Voraus­setzungen den Status einer "Körperschaft des öffent­lichen Rechts" zu erlangen und "Kirchensteuern" genannte Mitgliedsbeiträge durch staatliche Finanzämter einziehen zu lassen. Ebenso auf den Prüfstand gehören finanzielle Privilegien der Kirchen in Deutschland - das geht hin bis zur Zahlung von Bischofsgehältern aus allgemeinen Steuermitteln, also auch aus den Steuern von Atheisten, Moslems und Juden.

Ein besonders problematischer Aspekt des Kirchenstatus in Deutschland ist das so genannte "Selbstbestimmungsrecht": Es wird vielfach so ausgelegt, dass Kirchen und kirchennahe soziale Einrichtungen - wiewohl zumeist öffentlich finanziert - ein uneingeschränktes Recht jenseits der sonst für alle geltenden Gesetze hätten, wichtige individuelle Menschenrechte explizit zu missachten: das Recht auf Arbeit und freie Berufswahl, die Religions­freiheit und das Recht auf Ehe und Familie. So hat kürzlich ein deutsches Gericht für "rechtens" erklärt, dass einer leitenden Stationsschwester in einem zu 100 Prozent öffentlich finanziertem Krankenhaus "in evangelischer Trägerschaft" gekündigt wurde, nur weil sie aus der katholischen Kirche ausgetreten war. Obwohl sie stets zur Zufriedenheit ihres Dienstherrn gearbeitet hatte, und obwohl sie schwerbehindert ist. Mit ähnlichen Maßnahmen müssen Beschäftigte kirchennaher Einrichtungen rechnen, wenn sie ihr Privatleben nicht den Vorstellungen der jeweiligen Kirche unterordnen: wenn sie beispiels­weise Geschiedene heiraten oder nach einer Scheidung wieder heiraten, oder wenn sie eine eingetragene Lebenspartnerschaft mit einem Partner/einer Partnerin gleichen Geschlechts eingehen. Viele Menschen sehen sich dadurch genötigt, ihre Überzeugungen oder ihre Partnerschaft zu verheimlichen. Das ist entwürdigend.

Wir bitten Sie herzlich: Setzen Sie sich dafür ein, dass solche Diskriminierungen nicht auch noch durch eine Absicherung in der EU-Verfassung auf Dauer gestellt werden. Dass Menschenrechte und Menschenwürde überall in der EU geachtet werden. Bitte treten Sie dafür ein, dass Artikel I-51 aus dem Entwurf der EU-Verfassung gestrichen wird.

Mit freundlichen Grüßen

Rudolf Ladwig (IBKA e.V., 2. Vorsitzender)