Bürger und Christ?

Leben wir in einem quasi-christlichen Staat?

von Rechtsanwalt Erwin Fischer, Ulm

Aus: MIZ 2/86

Am 6. Juni 1986 hielt Erwin Fischer aus Anlaß des 75jährigen Bestehens des Bundes für Geistesfreiheit Augsburg ein Grundsatzreferat zum Verhältnis von Bürger und Christ/Staat und Kirche in der Bundesrepublik Deutschland. Wir veröffentlichen den Vortrag nachstehend ungekürzt. In diesem Zusammenhang verweisen wir nachdrücklich auf Erwin Fischers Standardwerk Trennung von Staat und Kirche - Die Gefährdung der Religions- und Weltanschauungsfreiheit in der BRD (Europäische Verlags-Anstalt 1984; siehe auch ausführliche Buchbesprechung in MIZ Nr. 1/86). - Die halbfetten Zwischenüberschriften sind von uns nachträglich dem Redetext hinzugefügt worden.

MIZ-Redaktion

Die Machtposition der großen Kirchen

Seit mehr als 30 Jahren befasse ich mich mit dem Verhältnis von Staat und Kirche, vor allem im Hinblick auf die unverletzliche Religions- und Weltanschauungsfreiheit. Was mich zunehmend mit Sorge erfüllt, ist folgendes Phänomen: einerseits nimmt die Machtposition der beiden christlichen Großkirchen ständig zu, andererseits nimmt ihre Bedeutung für ihre Mitglieder ständig ab. Was die Machtposition der Kirchen betrifft, so sind die durch das Grundgesetz gewährten Privilegien - der Religionsunterricht als ordentliches Lehrfach im öffentlichen Schulbereich und das Institut der Kirchensteuer - allerdings außer acht zu lassen.

Zunächst ist festzustellen, daß der Religionsunterricht - laut Bundesverfassungsrichter Mahrenholz ein "Fossil alter Zeiten der Nähe von Staat und Kirche" - nicht auf christliche Religionen beschränkt ist und Kirchensteuern sogar von Weltanschauungsgemeinschaften mit dem Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts erhoben werden können. Jedenfalls handelt es sich um systemwidrige Abweichungen von dem Gebot der Trennung von Staat und Kirche, so daß wir nur von einer grundsätzlichen Trennung sprechen können. Tatsächlich wirken sich aber diese beiden Privilegien ganz überwiegend zu Gunsten der christlichen Großkirchen aus und stützen ihre Machtposition. Vor allem schafft die Kirchensteuer - mehr als zehn Milliarden DM im Jahr - ihre finanzielle Grundlage, weil sich hier in legaler Weise die Zahl der nominellen Mitglieder auswirkt.

Partnerschaft Staat-Kirchen

Diese weitgehende Identität von Bürger und Christ wird jedoch von zahlreichen und bedeutenden Vertretern des Staatskirchenrechts für ganz andere Zwecke in Anspruch genommen, um nicht zu sagen mißbraucht. Sie leiten daraus nicht nur weit über die erlaubten Privilegien hinausgehende Konsequenzen zu Gunsten der Kirchen ab, sondern sie versuchen, damit eine Grundlage für eine enge Zusammenarbeit von Staat und Kirche, eine Partnerschaft zwischen beiden, auch als positive Trennung von Staat und Kirche bezeichnet, zu schaffen, und zwar mit Verfassungsrang!

Vermutlich hat Professor Mikat, promovierter Theologe und Justitiar der CDU-Bundestagsfraktion, in seinen Ausführungen über das kirchenpolitische System den ersten Beitrag dieser Art geleistet.

Bereits 1960 sprach er davon, daß "Staat und Kirche sich jedoch an dieselben Menschen wenden" (1). 1965 hat Professor Hesse - inzwischen Bundesverfassungsrichter geworden - diesen Gedanken aufgenommen und zur Gegenwartslage des Verhältnisses von Staat und Kirche erklärt:

"Wenn das Problem Staat und Kirche sich zugleich in der menschlichen Person stellt und damit als ein solches des 'idem civis et christianus' (zugleich Bürger und Christ), zu begreifen ist, wenn die 'Offenheit' des demokratischen Gemeinwesens organisierten Gruppeneinflüssen Raum bietet und damit die Frage der verfaßten Kirche im politischen Prozeß in den Vordergrund treten läßt, so erweist sich die Ordnung des Verhältnisses von Staat und Kirche als eine Frage der verfassungsmäßigen Gesamtordnung und können die staatskirchenrechtlichen Normierungen nicht isoliert, ohne den Zusammenhang mit dieser Gesamtordnung gesehen werden" (2). - Soweit Hesse.

Immerhin müßte ein Bundesverfassungsrichter wissen, daß die Religions- und Weltanschauungsfreiheit als ein unverletzliches Grundrecht das Recht eines jeden Menschen auf Freiheit vom Staat ist und den Staat in seiner Macht beschränkt. Daraus folgt mit zwingender Logik eine Trennung der religiösen, den Kirchen eigentümlichen Aufgaben von denen des Staates. Wie soll sonst auch verwirklicht werden, daß die religiöse und weltanschauliche Betätigung des Einzelnen sich in einem staatsfreien Raume abspielen kann, wenn nicht der Staat sich bezüglich dieses Raums eine strikte Neutralität auferlegt.

Gerade dies wollen aber Mikat und seine Nachfolger nicht. Vielmehr ersieht man aus Hesses Formulierung das Bemühen, die Identität von Bürger und Christ in die Ordnung des Verhältnisses von Staat und Kirche als Gestaltungsmerkmal der verfassungsmäßigen Gesamtordnung einzubringen.

Hesse polemisiert sodann gegen mich mit den Worten:

"Wenn damit der Grundsatz der Religionsfreiheit das durch das Grundgesetz verfaßte Staatswesen als ein weltliches konstituiert, so werden Glaube und Bekenntnis doch nicht lediglich in einen außerstaatlichen Bereich abgeschoben, dem der 'Staat' distanziert und beziehungslos gegenübersteht. Die heutige, auf eine solche Deutung der Religionsfreiheit fußende Lehre der Trennung von Staat und Kirche verkennt die Bedeutung religiösen und kirchlichen Lebens als Aktualisierung personaler Freiheit, um die es dem demokratischen Gemeinwesen in der Gewährleistung der Religionsfreiheit wesentlich zu tun ist. Diese Freiheit wird wirklich in der Person des Bürgers, der zugleich Glied seiner Kirche ist, der als Person eine Einheit und nicht ein beziehungsloses Gegenüber von 'Bereichen' ist, in dem sich daher in einem politischen Gemeinwesen, das auf dem Prinzip personaler Freiheit beruht, eine reiche Vielfalt von Kommunikationen zwischen dem weltlichen Gemeinwesen und der Kirche herstellt." (3)

Professor Martin Heckel verkündete sodann 1967 auf einer Tagung der deutschen Staatsrechtslehrer, gewidmet dem Thema "Die Kirchen unter dem Grundgesetz":

"Kirche und Staat begegnen sich ja nicht nur als transpersonale und autoritäre Institutionen in gleichsam räumlicher Trennung ihrer Herrschaftsbereiche - wie die Staaten des Völkerrechts. Sie begegnen sich in den gleichen Menschen, die Gläubige und Bürger zugleich sind, in den gleichen Lebensbereichen, in den gleichen Objekten und Sachproblemen, in denen die Gläubigen ihre Bürgerpflichten erfüllen und die Bürger ihres Glaubens leben wollen ..." Er meint weiter, das Trennungsdenken werde immer anachronistischer und aus "dem Trennungsprinzip" - ich zitiere wörtlich - "lassen sich auch keineswegs jene Forderungen nach einem offiziellen, staatlich verordneten Agnostizismus und einem Indifferentismus der staatlichen Kultur- und Sozialverantwortung begründen, die jüngst von Erwin Fischer erhoben worden sind". (4)

Was den Indifferentismus der staatlichen Kultur- und Sozialverantwortung betrifft, bin ich von Heckel richtig zitiert worden. Einen staatlich verordneten Agnostizismus habe ich noch nie gefordert, da der Staat seine Hände nicht nur von Religion, sondern auch von Weltanschauung jeder Art weglassen soll.

Auf der gleichen Tagung widersprachen die Professoren Ipsen und Quaritsch (5) sofort, letzterer mit der Bemerkung: "Herr Szczesny pflegt das Wort zum Sonntag auch heute nicht zu sprechen." Wenn er allerdings in einem anderen Zusammenhang erklärte, "die Versuche, den kirchlichen Stellungnahmen kraft 'Öffentlichkeitsanspruchs' einen uneinholbaren Geltungsvorsprung zu verschaffen, dürfen als gescheitert betrachtet werden" (6), so hat er sich leider geirrt.

Rechtswidrige "Identität von Bürger und Christ"

In dem von Mikat 1980 herausgegebenen Sammelband "Kirche und Staat in der neueren Entwicklung" ist gleich in drei Beiträgen die Identität von Bürger und Christ mit weitreichenden Folgerungen betont worden. Professor Häberle (7) führte zunächst aus:

"Das Wort 'idem civis et christianus' wäre zu modifizieren in 'idem civis et religiosus'."

Damit ist gemeint, man möge nicht mehr von der Identität von Bürger und Christ, sondern von der Identität des Bürgers und religiösen Menschen sprechen. Dies ist wohl ein Zugeständnis an die sogenannte religiöse Welle. Nun schließt Häberle daraus:

"Der Bürger kann sich für eine religiöse Existenz entscheiden und dementsprechend individuell und (oder) korporativ, privat (oder) öffentlich religiösen Interessen im Gemeinwesen Ausdruck verleihen."

Soweit trifft dies als logische Konsequenz aus der Religions- und Weltanschauungsfreiheit uneingeschränkt zu. Nun zieht Häberle aber folgenden Schluß:

Diesen religiösen Interessen "muß dann religionsrechtliche Leistungsstaatlichkeit gerecht werden".

Diese zunächst unverständliche Wortkombination wird verständlicher, wenn auch der folgende Satz Häberles zitiert wird:

"Er - der Bürger - kann sich aber auch 'neutral', indifferent oder gar antireligiös verhalten (wollen), und die verfassungsrechtliche Antwort des Staates auf diese Alternativen ist das Prinzip der weltanschaulich-konfessionellen Neutralität."

Damit meint Häberle den Bürger, der auf Religion verzichtet, weil er Agnostiker oder Atheist ist oder sich für eine Weltanschauung entschieden hat. Der Bürger aber, der sich für eine Religion entscheidet, kann nach Häberle dazu noch staatliche Leistungen an seine Kirche erwarten, die sich aus einem rätselhaften Religionsrecht ergeben sollen.

Wenn er den christlichen Bürger gegen den religiösen Bürger austauscht, so ist dies in Anerkennung des Grundsatzes der Parität geschehen. Er weiß aber genau, daß die von ihm erwähnten staatlichen Leistungen nur den beiden Großkirchen und nicht den christlichen Freikirchen oder Sekten zufallen, ganz abgesehen davon, daß der Grundsatz der Gleichbehandlung auch für die Weltanschauungsgemeinschaften gilt.

Der nächste Autor - Karl-Heinz Kästner - begnügt sich mit dem Hinweis auf die Identität von Bürger und Christ, so daß kirchliche und staatliche Sphären wechselseitig verzahnt seien und daher "einander sinnvoll zugeordnet werden müssen. Sie dürfen daher nicht im Sinne einer sachlich fragwürdigen Bereichsscheidung voneinander getrennt werden." (8)

Noch deutlicher äußert sich Meyer-Teschendorf (9). Unumwunden hält er für selbstverständlich, daß sich "über alle Umbrüche von Staat, Kirche und Gesellschaft hinweg rechtliche Kategorien gehalten haben, die letztlich in der Monarchie, im Staatskirchentum und im Christlichen Staat wurzeln".

Er rechtfertigt diesen Zustand als "Ergebnis freiheitlicher Grundrechtsentfaltung" und führt dazu aus:

"Das Grundgesetz stellt klar, daß auch unter der Verfassung eines nicht mehr christlichen Staates der Kirche die Freiheit gewährleistet bleibt, Bedeutsamkeit für die öffentliche Gesamtordnung gewinnen und Einfluß auf den politischen, sozialen und geistigen Standort des pluralistischen Gemeinwesens nehmen zu können."

Daraus folgert er:

"Eine Verfassung, die den Kirchen in derart dezidierter Form den Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts beläßt, akzeptiert nicht zugleich auch neuzeitlich-subtile Formen des Jakobinertums."

Sodann bringt er die Kulturverantwortung des Staates in die Diskussion ein und meint:

"Die Verfassung privilegiert das moralisch-ethische Mandat der Kirchen, weil Staat und Gesellschaft der Vermittlung und des Lebendighaltens von Grundwerten und sittlichen Grundhaltungen bedürfen."

Nun folgt in der Beweisführung wieder ein Rückgriff auf die Kirchenmitglieder. Denn

"Verfassung und Staat fördern die Kirche nicht um ihrer selbst, sondern um der Bürger willen, die in der Kirche ihre religiöse Selbstverwirklichung finden. Das Engagement des Staates zugunsten der Kirche ist in einem spezifischen Sinne personenbezogen, grundrechtsbezogen; es ist 'Angebot und Hilfe für den Menschen jener Kirchen, zu seinem Nutzen und Frommen ... Konsequenz und Mittel zur Entfaltung seiner positiven Religionsfreiheit'. Die Kirchenförderung unter dem Grundgesetz legitimiert sich letztlich aus ihrem individuellen Bezug; ihr eigentlicher Sinn, ihre eigentliche Motivation erschließen sich erst im 'Durchgriff' auf die hinter der Institution 'Kirche' stehenden Grundrechtsträger. Um deren Freiheitsentfaltung geht es, wenn Staat und Verfassung die Kirche unterstützen. Höchstpersönliche Grundrechtsinteressen sind unmittelbar Objekt und Ziel der staatlichen Subvention; Ansatz und Maßstab sind die religiösen Bedürfnisse des Einzelnen, der in und bei der Kirche 'geistige Daseinsvorsorge' sucht, der sich deshalb zur Kirche bekennt und um dessentwillen die Kirche - gleichsam als Subventionsmittler - staatlicherseits gefördert wird."

"Positive" und "negative" Religionsfreiheit - eine verfassungswidrige Konstruktion

Professor Mikat, unter dessen Einfluß alle bisher genannten Autoren stehen, hat ursprünglich die Koordinationslehre vertreten, wonach Kirche und Staat gleichrangige Gemeinschaften erster Ordnung seien, sogenannte vollkommene Gesellschaften. Damit ist er gescheitert. Nun will er den Einfluß der Kirchen, vornehmlich der katholischen, durch seine religionsrechtlichen Vorstellungen absichern. Er meint:

"Solange aber religiöse Interessen zu den geistigen Lebensinhalten gehören, zu denen die Bürger sich frei bekennen, bleibt die Schaffung und Gewährleistung gesellschaftlicher Bedingungen für eine Realisierbarkeit religiöser Bedürfnisse eine Aufgabe des politischen Gemeinwesens" - damit ist der Staat gemeint - ,"das durch die Wahrnehmung dieser Aufgabe nicht selber Träger des religiösen Interesses wird, wohl aber als Sachwalter der Freiheit seiner Bürger auftritt." (10)

Die zitierten Äußerungen stehen stellvertretend für die Auffassung der überwiegenden Mehrheit der deutschen Staatsrechtslehrer, die sich mit dem Staatskirchenrecht befassen. Sie befinden sich nämlich vor folgendem Dilemma: Sie können zwar die Verpflichtung des Staates zu weltanschaulich-religiöser Neutralität nicht leugnen. Sie wollen daraus aber nicht die notwendigen Konsequenzen ziehen. So wurde folgender Ausweg konstruiert, und zwar auf Verfassungsebene:

Der Bürger, der als Christ von der unverletzlichen Religionsfreiheit Gebrauch macht, bedarf staatlicher Unterstützung, sowohl wegen des öffentlichen Interesses an der Religionsausübung als auch wegen der Kultur- und Sozialverantwortung des Staates. Zur weiteren Unterstützung wird zwischen negativer und positiver Religionsfreiheit bei der Auslegung von Art. 4 GG unterschieden. Es sei verfehlt, nur die kleine glaubenslose Minderheit in Auswirkung der negativen Religionsfreiheit zu schützen. Der Staat dürfe den Anspruch von 95 Prozent der Bevölkerung auf positive Religionsfreiheit nicht zu Gunsten einer kleinen Minderheit ignorieren. Daraus wird das Recht auf staatliche Religionsförderung abgeleitet.

Was es mit dem "christlichen Bürger" auf sich hat

Dieser Ausflug in die Niederungen des staatskirchenrechtlichen Schrifttums - mit Zitaten prominenter Vertreter dieses Fachs - war nötig, um zu demonstrieren, wie weit man sich hier von einer dem Gesetze der Logik unterworfenen Beweisführung entfernt hat. Zunächst ist aber zu untersuchen, was es mit dem christlichen Bürger auf sich hat. Man beruft sich ständig auf die 95 - inzwischen nur mehr 84 Prozent - der in den großen Kirchen getauften Christen, die ein personales Verhältnis zweier Gemeinschaften repräsentieren. Geflissentlich wird aber ignoriert, daß eine von Kirche zu Kirche verschiedene Mehrheit dieser Christen nur noch eine nominelle Beziehung zu ihrer Kirche hat. Sie gehören ihr an, weil ihre Eltern sie aus Tradition taufen ließen.

Nach einer Statistik der Evangelischen Kirche in Deutschland werden Gottesdienste nur noch von einer Minderheit - fünf Prozent der Mitglieder - besucht. Lediglich hohe Feiertage üben eine größere Anziehungskraft aus. Das Ja-Wort vor dem Traualtar wird immer seltener, während die kirchliche Bestattung als traditionsverbundene Feier noch zum guten Ton gehört. Eine erst vor kurzem durchgeführte Umfrage ergab, daß nur noch die Hälfte der Bevölkerung die Bedeutung des Pfingstfestes kennt. Für 14 Prozent hat Pfingsten noch einen religiösen Bezug; für 42 Prozent sind es freie Tage, auf die man sich freut. Der Tübinger Theologe Prof. Nipkow mußte feststellen, daß die Jugend mit der traditionellen Kirche kaum etwas anfangen kann, insbesondere nicht mit der christlichen Hauptlehre, daß sich Gott in Jesus offenbart habe. Vor allem wird abgelehnt, daß die Kirchen Anweisungen für Empfängnisverhütung, das Sexualleben vor der Ehe und die Ehescheidung geben. In zunehmenden Maße richtet sich das Verhalten der ständig zitierten 84 Prozent Christen nicht mehr nach dem kirchlichen Moralkodex.

Daher stellten schon vor Jahren anerkannte Theologen wie Romano Guardini und Karl Rahner fest: Deutschland sei ein Heidenland mit christlicher Vergangenheit und christlichen Restbeständen, Deutschland sei wie das christliche Abendland überhaupt zum Missionsland geworden. Erst im März dieses Jahres hat ein Stuttgarter Dekan in einem Interview mit der Stuttgarter Zeitung berichtet, daß er dem Gesamtkirchengemeinderat "eine neue missionarische Strategie" empfohlen habe. Und vor wenigen Wochen gab der Leiter der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen zu, daß die Kirche das Monopol auf dem Gebiet "Religion" verloren habe. Es gäbe eine Fülle von religiösen, quasi religiösen und pseudoreligiösen Angeboten, auch aus dem nichtchristlichen Osten. Es bestünden Bedürfnisse, welche die Kirche nicht erfüllen könne. Auch geistig Anspruchsvolle fänden keine Antwort in der Kirche.

Was unter "Religion" zu verstehen ist

Ehe wir uns mit den zitierten Vorstellungen führender Staatskirchenrechtler auseinandersetzen, soll zunächst geklärt werden, was unter Religion zu verstehen ist. In der Geschichte der Menschheit taucht Religion nicht als Folge eines persönlichen seelischen Bedürfnisses auf. Vielmehr bedarf jede soziale Ordnung eines einigenden Wertsystems, das die erlaubten Mittel und Ziele angibt, um Konflikte im Staat und in der Gesellschaft weitgehend vermeiden zu können. Religion - nicht im Sinne einer persönlichen Religiosität, sondern objektiviert in einer Kirche, die als Volkskirche die sakrale Einheit von Volk und Staat bildet -, ist - aus historischer Sicht - der wirksamste lntegrationsfaktor, der dieses Ordnungsproblem zu lösen geholfen hat. Die von dem jeweiligen Machthaber erlassenen Gebote werden in die göttliche Welt hineinprojiziert und strahlen von dort in verstärktem Glanz zurück. Das bekannteste Beispiel sind die Zehn Gebote, die als Gottesgebote bis heute nicht nur im Judentum wirksam sind. Auch bei uns wird von unkritischen Rechtsprofessoren behauptet, die Zehn Gebote seien Bestandteil des Sittengesetzes. Dieses schränkt das in Artikel 2 unseres Grundgesetzes anerkannte Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit ein. Zur Begründung brachte Professor Hans Peters vor (11), die Zehn Gebote gehörten zum Allgemeingut der abendländischen Kultur. Selbst sonst ernst zu nehmende Kommentatoren des Grundgesetzes haben diese Auffassung übernommen.

Das christliche Sittengesetz hat sogar Eingang in einige Landesverfassungen gefunden. So ist laut Art. 1 Verfassung des Landes Baden-Württemberg der Mensch berufen, in der ihn umgebenden Gemeinschaft seine Gaben in Freiheit und in der Erfüllung des christlichen Sittengesetzes zu seinem und der anderen Wohl zu entfalten. Die Verfassung des Freistaates Bayern hat sich damit begnügt, die Ehrfurcht vor Gott als eines der obersten Erziehungsziele zu bezeichnen. Die Verfassung des Saarlandes erkennt das Elternrecht hinsichtlich der Erziehung der Kinder an, aber nur auf der Grundlage des natürlichen und christlichen Sittengesetzes. Diese Bestimmungen sind samt und sonders nichtig, weil verfassungswidrig. Denn unserem Staat ist, wie das Bundesverfassungsgericht in den Urteilen vom 14. Dezember 1965 erklärt hat, als Heimstatt aller Bürger ohne Ansehen der Person weltanschaulich-religiöse Neutralität auferlegt. Zur Begründung ist auf die unverletzliche Religions- und Weltanschauungsfreiheit, das Verbot einer Staatskirche sowie vier weitere Verfassungsbestimmungen hingewiesen.

Damit ist klar zum Ausdruck gebracht, daß Religion und Weltanschauung den Staat nichts angehen. Hierüber zu entscheiden, ist einzig und allein Sache des Bürgers, der sich insoweit in einem staatsfreien, d.h. dem Staat verschlossenen Bereich befindet. Die Persönlichkeit kann sich auf religiösem und weltanschaulichem Gebiet frei und uneingeschränkt, d.h. ohne Bindung an ein christliches Sittengesetz, entfalten und verwirklichen.

Religion und Weltanschauung sind Privatsache

Ohne Übertreibung darf daher gesagt werden - und damit kommen wir zum Thema zurück -: Religion und Weltanschauung sind in verfassungsrechtlicher Sicht Privatsache des einzelnen Bürgers geworden. Diese Feststellung schließt selbstverständlich nicht aus, daß die Bürger, die sich für eine Religion oder eine Weltanschauung entschieden haben, sich mit Gleichgesinnten in Religionsgesellschaften oder Weltanschauungsvereinigungen - dies sind die in der Verfassung verwendeten Begriffe - zusammenschließen können.

Bekanntlich verlief die geschichtliche Entwicklung anders. Ursprünglich war jeder Untertan Zwangsmitglied der katholischen Kirche. Als Folge der Reformation kam es am 25. September 1555 zum Augsburger Religionsfrieden und sodann im Westfälischen Frieden am 29. Oktober 1648 zu einer konfessionsrechtlichen Neuregelung, die auf den religionspolitischen Bestimmungen des Augsburger Religionsfriedens aufgebaut war. Der Landesherr bestimmte über die Religion seiner Untertanen mit dem Recht der Ausweisung Andersgläubiger. Zugelassen war aber nur der Katholizismus, die Augsburgische Konfession und das reformierte Bekenntnis, die sogenannten Religionsparteien.

Es war noch ein langer Weg zurückzulegen, bis endlich volle Glaubens- und Gewissensfreiheit jedermann zugestanden wurde. Meines Wissens sind in der Verfassungsurkunde für das Königreich Bayern vom 26. Mai 1815 in § 9 Abs. 3 zum ersten Mal "die nichtchristlichen Glaubensgenossen erwähnt, die vollkommene Gewissensfreiheit haben". Im Schrifttum ist allerdings umstritten, ob durch diese Formulierung auch zum erstenmal die Weltanschauungsfreiheit garantiert wurde.

"Gute" und "böse" Staatsbürger?

Wie sich aus unserer Zitatensammlung ergibt, versucht man, entgegen der vom Bundesverfassungsgericht anerkannten Verpflichtung des Staates zur weltanschaulich-religiösen Neutralität an die Vergangenheit anzuknüpfen und die vielfach vorhandenen Verbindungen rechtlich abzusichern.

Auf die Sprachregelung, zwischen einer negativen und einer positiven Religionsfreiheit zu unterscheiden, habe ich bereits hingewiesen. Hier handelt es sich um eine sich wissenschaftlich gebärdende Taktik, die einen Doppeleffekt hervorruft. Zum einen: wer kraft positiver Religionsfreiheit sich für eine Religion entscheidet, handelt positiv, womit sich die Vorstellung "gut" verbindet. Wer dagegen dank der negativen Religionsfreiheit auf eine Religion verzichtet, handelt negativ = schlecht! Dieser Bewertung kommt Professor Hollerbach ziemlich nahe mit der Erklärung, das Grundgesetz fordere nicht die rigoristische Außerachtlassung des Wunsches der großen Mehrheit der Bevölkerung nach christlicher Erziehung - Ausdruck der positiven Religionsfreiheit - auch nicht "das zu Minimalismus und Nivellierung führende Diktat der Minderheit" - Ausdruck der negativen Religionsfreiheit. (12)

Zum zweiten: wer sich positiv für eine Religion entscheidet, nimmt ein ihm von der Verfassung gewährtes Recht in Anspruch, indem er zugleich auch im öffentlichen Interesse handelt. Nach Kewenig (13), derzeit Innensenator von Berlin, ist der Staat verpflichtet, für die Realisierbarkeit religiöser Interessen Sorge zu tragen. So erscheinen die der Tradition verhafteten Staatskirchenrechtler als die entschiedenen Wahrer des positiven Aspektes der unverletzlichen Religionsfreiheit, während diejenigen, die bei der Auslegung des Grundgesetzes sich der juristischen Methode bedienen, dem Christen "die Realisierung seiner 'positiven' Religionsfreiheit in der Welt, im Leben verwehren" wollen (14).

Verpflichtung des Staates zur Neutralität

Nun ist aufschlußreich, daß Professor Listl, früher Leiter des Instituts für Staatskirchenrecht der Diözesen Deutschlands, jetzt Inhaber eines Lehrstuhls für Kirchenrecht an der Augsburger Universität, 1968 an den vom Bistum Essen veranstalteten Gesprächen zum Thema Staat und Kirche erklärt hat (15):

"... die Verpflichtung des Staates zu religiöser und weltanschaulicher Neutralität und damit auch das Verbot der Identifikation des Staates mit einer bestimmten Religion oder Weltanschauung" ist "primär im Grundrecht der Religionsfreiheit des Art. 4 GG enthalten".

Daraus schloß er folgerichtig, daß sich die aus der Weimarer Reichsverfassung übernommenen Kirchenartikel 137 Abs. 1-3 lediglich als "deklaratorische, historisch begründete Entfaltung der Religionsfreiheit erweisen. Dies bedeutet, daß sich das Verbot der Staatskirche, die Freiheit des Zusammenschlusses zu Religionsgesellschaften und Weltanschauungsvereinigungen sowie das Selbstbestimmungsrecht dieser Gemeinschaften bereits aus der Religionsfreiheit ergeben."

Diese These führte zu einer lebhaften Diskussion. Professor Scheuner, einer der profiliertesten Vertreter der konservativen Richtung, stellt die Frage, ob und in welchem Umfang man das staatskirchenrechtliche System auf die Religionsfreiheit stützen könne.

Alfred Albrecht erkannte sofort die Brisanz der These und bemerkte: bei der deklaratorischen Bedeutung der erwähnten Kirchenartikel sei die Auffassung nicht mehr haltbar, 1. daß der Staat die Kirche als eigenartige, ihrem Wesen nach vom Staat unabhängige Institution anerkenne, 2. sie - die Kirche - im Sinne ihres Selbstverständnisses als vollkommene Gesellschaft über eine verfassungstranszendente unabhängige Eigenrechtsmacht verfüge, die durch die staatliche Gewalt zu respektieren sei.

Noch deutlicher äußerte sich der frühere Bundesrichter Schröker. Er meinte, Listls These sei nicht unbedenklich, auch nicht überzeugend, "weil - ich zitiere - aus dem Art. 4 mit derselben Begründung auch die gegenteilige Forderung abgeleitet, nämlich die Trennung von Staat und Kirche gefordert wird". Dabei bezog er sich auf die 1. Auflage meines Buches "Trennung von Staat und Kirche".

Diese Diskussion veranlaßte die Herausgeber der Essener Gespräche, im Vorwort darauf hinzuweisen, daß die Religionsfreiheit und ihr Verhältnis zu den Kirchenartikeln weithin noch wissenschaftliches Neuland seien. Dies berge die Gefahr von Vereinseitigungen in sich, "nicht zuletzt diejenige, aus Art. 4 Grundgesetz extrem säkulare Trennungstendenzen herauszulesen".

Grundsätzliche Trennung von Staat und Kirche

Eingangs habe ich darauf hingewiesen, daß das durch das Grundgesetz vorgeschriebene System des Verhältnisses von Staat und Kirche in einer grundsätzlichen Trennung besteht, weil sich aus dem Grundgesetz zwei - aber auch nur zwei Ausnahmen ergeben. Es gibt nun einen allgemein anerkannten Grundsatz: Ausnahmen von einer gesetzlichen Regelung sind nicht extensiv, sondern restriktiv auszulegen. Dies muß in besonderem Maße für ein als unverletzlich geltendes Grundrecht wie die Religions- und Weltanschauungsfreiheit gelten. Überdies hat das Bundesverfassungsgericht - auf Grund seiner Zuständigkeit als Hüter der Verfassung bezeichnet - wiederholt erklärt, daß die Berufung auf die Tradition, ja sogar eine "jahrhundertealte Überlieferung" gegenüber einer verfassungsrechtlichen Neuordnung versagt. Es kommt daher auch im Bereich des Staatskirchenrechts weder auf historische Ehrwürdigkeit noch die Wesenserfassung historischer Wesenheiten nach deren Selbstverständnis oder auf die außerordentliche Fruchtbarkeit der geistesgeschichtlichen Methode im Staatskirchenrecht an, sondern ganz allein auf das Grundgesetz mit seiner verbindlichen Regelung. Dabei hat die Auslegung sich ausschließlich der juristischen Methode zu bedienen, "Theologische, historische und soziologische Reflexionen" (Quaritsch [16]) haben auszuscheiden. Dies gebietet überdies auch der Vorrang der Norm als Fundament des Rechtstaats.

Religions- und Weltanschauungsfreiheit - ein Grundrecht

Eine noch so weitgehende Identität von Bürger und Christ ist daher ohne jede rechtliche Bedeutung. Und was die Verbindung zwischen dem christlichen Staatsbürger und der positiven Religionsfreiheit betrifft, so handelt es sich um einen Fehlschluß. Seit Freiheitsrechte anerkannt werden, unterscheidet man zwischen negativen Statusrechten, die als liberale Grundrechte eine staatsfreie Sphäre gewährleisten, und positiven Statusrechten, die dem Einzelnen einen Anspruch auf bestimmte Leistungen des Staates gewähren, wie zum Beispiel das Recht auf Arbeit oder Bildung.

Daß es sich aber bei der Religions- und Weltanschauungsfreiheit um ein Grundrecht, d.h. ein Recht des Bürgers gegen den Staat handelt, daß es das Recht eines jeden Menschen auf Freiheit vom Staat ist und den Staat in seiner Macht beschränkt, wie dies vom Bundesverfassungsgericht formuliert worden ist (17), kann nicht bestritten werden. Wie der Einzelne als Träger dieses Rechts von seiner Freiheit Gebrauch macht, bleibt ihm überlassen. Nach seinem Belieben kann er sich aktiv oder passiv verhalten. Es steht ihm völlig frei, mangels eines Bedürfnisses auf dem Gebiet von Religion oder Weltanschauung abstinent zu bleiben. Entscheidet er sich aber für eine aktive Betätigung, d.h. will er sich in dem staatsfreien Raum, der für Religion und Weltanschauung jedermann offensteht, für eine der zahlreichen Möglichkeiten entscheiden, so spielt es absolut keine Rolle, welche Auswahl er getroffen hat, sei es für eine Religion oder eine Weltanschauung.

Da diese Entscheidung sich in dem staatsfreien Raum vollzieht, der staatlichem Zugriff nicht untersteht, ist es dem Staat auch verwehrt, den religiösen oder weltanschaulichen Entschluß seiner Bürger irgendwie zu bewerten und diesen einer positiven oder negativen Religions- oder Weltanschauungsfreiheit zuzuordnen: denn für den Staat ist die freie Entscheidung ohne jede Bedeutung. (Auf Ausnahmen wie etwa die Ernennung eines Religionslehrers oder Bestellung eines Vormundes für ein religiös gebundenes Kind brauchen wir hier nicht einzugehen).

Der Gesichtspunkt, daß um des Bürgers willen, zu seinem Nutzen und Frommen, der Staat die Kirche fördern darf, entbehrt jeder logischen Begründung. Er widerspricht dem Wesen der Religions- und Weltanschauungsfreiheit als einem liberalen Freiheitsrecht, das jeder Einflußnahme des Staates entzogen ist.

Trotz Entchristlichung Kirchen im Vormarsch

Überdies haben wir festgestellt, daß die ständig wiederholte Bezugnahme auf die Identität von Bürger und Christ der Realität nicht mehr entspricht, weil es sich bei den 84 Prozent Christen um "kirchenfremde Massen" (Quaritsch) handelt und selbst Bundesverfassungsrichter Hesse zugeben muß, daß eine fortschreitende Entchristlichung besteht, mit der sich die Emanzipation der Welt verbindet: Die Christen werden mehr und mehr zu einer Minderheit inmitten einer teils feindlichen, teils indifferenten Umwelt. Die Kirche, dem Namen und dem Anspruch nach zwar Volkskirche, wird ihrer Substanz nach zu einer Minderheitenkirche von Christen, die sich aufgrund freier und bewußter Entscheidung zu ihr bekennen. Ihre Situation ist heute nicht nur im Bereich der nichtchristlichen Religionen, sondern in den Ländern des Christentums selbst die der Diaspora (18).

Diese bereits 1965 veröffentlichten Ausführungen sind durch die Entwicklung nur bestätigt worden. Es wäre daher denkbar gewesen, daß entsprechend der am 7. Dezember 1965 auf dem II. Vatikanischen Konzil verkündete Pastoral-Konstitution die Kirche "ihre Hoffnungen nicht auf Privilegien setzt, die ihr von der staatlichen Autorität angeboten werden. Sie wird sogar auf die Inanspruchnahme legitim erworbener Rechte immer dann verzichten, wenn feststeht, daß sonst die Lauterkeit ihres Zeugnisses in Frage gestellt ist, oder wenn veränderte Umstände eine andere Regelung erfordern" (19).

Doch weit gefehlt. Die Kirchen befinden sich seit Jahren im Vormarsch. Ihr Einfluß im staatlichen und öffentlichen Bereich verstärkt sich zusehens. Der katholischen Kirche ist es gelungen, mit ihren Büros in Bonn und bei den Länderregierungen, flächendeckend eine sämtliche Staatsorgane umfassende Lobby zu schaffen. Soeben ist das Katholische Büro Stuttgart, die gemeinsame Verbindungsstelle der Bischöfe von Freiburg und Rottenburg zum Landtag und zur Landesregierung, neu besetzt worden. Einflußreiche Zeitungen verkünden, daß die Kirchen die einzige Institution im Lande sind, die umfassend auf die Fragen nach Glauben, Wert und Sinn Antwort geben können. So nimmt es nicht Wunder, daß Kardinal Ratzinger, Präfekt der Katholischen Glaubenskongregation, vor nicht allzulanger Zeit erklärt hat (20), daß "ein Grundgefüge von christlich fundierten Werten die Voraussetzung für das Bestehen des Staates sei". Der unvollkommene Staat brauche Kräfte von außerhalb seiner selbst, um als er selbst bestehen zu können. Sodann führt er wörtlich aus: "Wenn wir das nicht wieder einsehen und entsprechend Demokratie auf Christentum, Christentum auf den freien demokratischen Staat hinleben lernen, werden wir die Demokratie mit Sicherheit verspielen." Als Grund gibt Ratzinger an, daß Demokratie ein Produkt aus der Verschmelzung von griechischem und christlichem Erbe sei, eine Behauptung, die durch die geschichtliche Entwicklung widerlegt wird. Nun wendet sich Ratzinger nicht etwa an seine Gläubigen, wozu er befugt wäre, sondern unmittelbar an den Staat mit den Worten: "Der Staat muß erkennen, daß ein Grundgefüge von christlich fundierten Werten die Voraussetzung seines Bestehens ist. Er muß in diesem Sinne einfach seinen historischen Ort erkennen, den Erdboden, von dem er sich nicht gänzlich lösen kann, ohne zu zerfallen ... Er muß lernen, daß es einen Bestand von Wahrheit gibt, der nicht dem Konsens unterworfen ist, sondern ihm vorausgeht und ihn ermöglicht."

Der Schlüssel für Ratzingers Vorstoß liegt in dem Bestreben, den Konsequenzen der stetig zunehmenden Entchristlichung zu entgehen, aber auch den dornigen Weg zu einem verjüngten und egalitären Christentum zu vermeiden. So wird der Ausbau der Machtpositionen im weltlichen Bereich weiter betrieben, indem die christliche Wertordnung zur Voraussetzung für den Bestand des Staates erklärt wird. Dies geschieht ausgerechnet in einer Zeit, in der nur noch eine Minderheit der Kirchenmitglieder die vorgeschriebenen christlichen Werte befolgt, während die Mehrheit sich mit einer nur noch formalen Mitgliedschaft begnügt. Zudem ergeben sich als unabdingbare Grundlage für die Offenheit der Grundwerte vor allem die unverletzlichen Grundrechte wie die Geistesfreiheit und die Religions- und Weltanschauungsfreiheit. Sie haben die Rolle eines Integrationsfaktors übernommen, die früher der Religion mit ihrem Absolutheitsanspruch zukam. Da diesem kraft der Religions- und Weltanschauungsfreiheit nur noch innerkirchliche Bedeutung zukommen kann, ist dem anmaßenden Ansinnen von Ratzinger aber auch jede rechtliche und moralische Grundlage entzogen.

Freiheitsrechte gegen die Kirchen erstritten

Am 30. Mai 1986 hat Papst Johannes Paul II. in seiner Enzyklika sich bei seinem Eintreten für die Menschenrechte auf den Heiligen Geist berufen. Dazu ist festzustellen, daß es nicht dem Heiligen Geist zu verdanken ist, wenn durch die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der Vereinigten Nationen (vom 10. Dezember 1949), durch die Konvention des Europarates zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (vom 3. September 1953) und durch unser Grundgesetz die von ihm angeprangerten Sünden zum großen Teil verdammt worden sind. Dies ist allein dem Geist der Aufklärung zu verdanken, der sich für die Menschenwürde eingesetzt und sich gegen die Ausrottung der Ketzer, gegen Hexenprozesse und die von den Kirchen gebilligte Sklaverei gewandt hat, um nur einige markante Beispiele zu nennen. In einem langwierigen Prozeß sind die Freiheitsrechte nicht von den Kirchen gegen die Welt, sondern von der Welt gegen die Kirchen erstritten worden. Auch die Religions- und Weltanschauungsfreiheit verdankt ihre Anerkennung ausschließlich dem Geist der Aufklärung ...

Anmerkungen: (1) Staat und Kirchen in der Bundesrepublik, hrsg. v. Quaritsch/Weber, S. 207. - (2) wie (1), S. 349. - (3) wie (1), S. 350. - (4) Die Kirchen unter dem Grundgesetz in Veröffentlichungen der Vereinigung Deutscher Staatsrechtslehrer H. 26, S.29. - (5) a. a. 0., S. 111, 119. - (6) wie (1), S. 372. - (7) Kirche u. Staat in der neueren Entwicklung, hrsg. v. Pellikat, S. 464. - (8) wie (7), S. 480f. - (9) wie (7), S. 499, 550. - (10) Handbuch des Staatskirchenrechts der BRD, hrsg. v. Friesenhahn/Scheurer/Listl, 1. Bd. S. 121. - (11) Festschrift für R. Leurs, S. 677. - (12) wie (4), S. 98. - (13) wie (7), S. 139ff.- (14) M. Heckel, wie (4), S. 5 ff. - (15) Essener Gespräche zum Thema Staat u. Kirche, hrsg. v. Krautscheidt/Marré, Bd. 3, S. 135 ff. - (16) Hamburger Festschrift für Fr. Schack, S. 141. - (17) Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts Bd. 7, 198/204. - (18) wie (1) S.343, 350. - (19) Zitiert nach Mikat in Festschrift für Kunst, S. 124. - (20) FAZ vom 4. August 1984.