Entlassungsgrund: Unglaube

Friedrich Kiss

Aus: MIZ 3/92

Ich war bis zum 12. April 1992 Dozent an einer kirchlichen Fachschule für Sozialpädagogik in Kassel. Am 13. April 1992, im Alter von 56 Jahren, sechs Monate nach meinem 25. Dienstjubiläum, wurde ich wegen meiner Abwendung vom christlichen Glauben fristlos entlassen.

Die vom Diakonischen Werk Kurhessen-Waldeck getragene Fachschule bildet in einem dreijährigen Ausbildungsgang Erzieherinnen und Erzieher aus. Die Studierenden im Alter von 19 bis 22 Jahren sind meist evangelisch, Konfessionszugehörigkeit ist aber für die Studierenden nicht bindend. Ich habe Theologie und Pädagogik studiert, war als Lehrer an Berufsschulen und in der Lehrerfortbildung der evangelischen Kirche tätig und seit 1982 hauptberuflich an der besagten Fachschule angestellt, unterrichtete Psychologie, Deutsch, Heimerziehung, und bis zum 30.Juli 91 auch Religion.

Im April 1991 teilte ich dem Schulträger mündlich und schriftlich meine Abwendung vom christlichen Glauben mit und erklärte meine Absicht, aus der Kirche auszutreten. Als Reaktion darauf stellte dieser die fristlose Entlassung gemäß §32 seiner Arbeitsvertragsrichtlinien (AVR) in Aussicht. Diese ist nach AVR innerhalb von 14 Tagen zulässig, wenn ein wichtiger Grund vorliegt. Als wichtige Gründe bezeichnet die AVR in §32 ausdrücklich "grobe Achtungsverletzungen gegenüber der Kirche oder ihrer Diakonie" und "Austritt aus der evangelischen Kirche".

Die außerordentliche Kündigung wurde vom Arbeitgeber dann aber doch nicht ausgesprochen. Nach einigem Hin und Her wurde mir sogar schriftlich bestätigt, daß ich, solange ich nicht förmlich aus der Kirche ausgetreten bin, voll im Unterricht eingesetzt werden soll. Lediglich mein Unterricht im Fach Religion wurde gestrichen und durch das Fach Soziologie ersetzt.

Der Chronist in eigener Sache ist versucht, seinem kirchlichen Arbeitgeber an dieser Stelle ein Lob wegen Toleranz auszusprechen. Trotz Kenntnis seines offenen und eindeutigen Widerspruchs gegen Kirche und Christentum (erklärte Austrittsabsicht!) durfte er in den "weltlichen Fächern" nach wie vor ohne irgend eine Beanstandung an ihrer Schule lehren. Daß allerdings solches keinesfalls selbstverständlich ist und ein Lob übereilt gewesen wäre, zeigt der Fortgang des Falles.

Ohne daß ich den Kirchenaustritt förmlich vollzogen hätte, gab ich am 2. April 1992 meinen Kolleginnen, die von meiner Absicht, aus der Kirche auszutreten, wußten, eine 25seitige interne Schrift, in der ich meine Entfernung von Kirche und Christentum begründete. Dies Papier bot nun den Anlaß für den plötzlichen Hinauswurf. Weil sein Inhalt und Stil die Begründung dafür abgeben, hier zur Kennzeichnung daraus einige Stichworte:

...ich bleibe nicht in dieser Kirche, nachdem ich "mehr und mehr ihre Häßlichkeit sehe, ihr verbissenes Schachern um verlorenes Terrain, das verzweifelte Klammern an die ihr so vertrauten Strukturen von Gewalt und Geld und das unerbittliche Festhalten an ihrer autoritären Vergangenheit."

"...daß auf dem Dünger des Christentums nicht nur die meisten Kriege gewachsen sind, sondern auch der Konsumismus."

"...soll ein Lehrer an einer kirchlichen Schule jemand sein, der nicht dazulernt, jedenfalls nicht in Glaubensdingen; einer, der sich konsequent abschottet gegen neue Einsichten? Soll er in dieser Beziehung so werden, wie christliche Kirchenleitungen sind, die ihre Leute auf tausendjährige Bekenntnisse vereidigen und dann darüber wachen, daß diese nicht verletzt werden? Soll er ein Glaubensbeamter werden im schlechtesten Sinne diese Begriffs?"

Das Diakonische Werk spricht am 7. April die Kündigung zum 13. April aus. Es nennt das Papier einen "inhaltlichen Austritt aus der Kirche" und sieht in ihm inhaltlich und sprachlich eine "grobe Achtungsverletzung gegenüber der evangelischen Kirche und ihren Einrichtungen". Es müsse auch erwartet werden, daß das intern verteilte Papier öffentlich werde. Aus diesen Gründen sei die fristlose Kündigung nicht mehr zu vermeiden. Ich könne der Schule, meinen Kollegen und den Studierenden keinen Tag länger zugemutet werden.

Die Kolleginnen zeigen mir demonstrativ ihre Sympathien, laden mich zu gemeinsamem Essen ein und sagen mir gute Worte in dieser für mich psychisch belastenden Situation. Die Studierenden setzen den Unterricht aus, machen eine Vollversammlung und eine große, angemeldete Demonstration durch die Stadt, um ihren Lehrer zu halten. Aber auch sie können den Schulträger nicht zur Rücknahme oder Modifikation seiner Entscheidung bewegen. Selbst ihr Kompromißziel, ich solle mindestens bis zum Abschluß des gerade laufenden Examens bleiben dürfen und ihre Prüfung mit abnehmen, können die Studierenden nicht durchsetzen.

Meine arbeitsgerichtliche Klage gegen die Kündigung führt zu einem Vergleich, der das Arbeitsverhältnis förmlich bis zum 30. Juni 1992 verlängert und mir eine Abfindung etwa in Höhe eines halben Jahresgehaltes einbringt.

Sicher ist die Bewertung der Angelegenheit vielschichtig. Mein Arbeitgeber beruft sich darauf, daß er religiös nicht neutral sei und auf Grund der durch die Verfassung verbrieften Religionsfreiheit das Recht habe, seine Angelegenheiten selbst zu regeln. Ich erlaube mir als Betroffener vier Anmerkungen:

1. Kirchenaustritt soll dem Betroffenen weh tun.

Bevor die fristlose Kündigung ausgesprochen wurde, forderte mein Arbeitgeber mich auf, das Dienstverhältnis - 25 Jahre öffentlicher Dienst, ordentlich nicht kündbar - freiwillig durch einen abfindungslosen Auflösungsvertrag zu beenden.

Nun war aber meine Qualifikation für den Unterricht in meinen Fächern durch nichts beeinträchtigt. Andererseits verschlechtert sich meine berufliche und wirtschaftliche Perspektive durch die Beendigung dieser Berufstätigkeit schwerwiegend.

Daß ich nicht freiwillig ohne irgend eine Abfindung ging, wurde mir im Kündigungsschreiben ausdrücklich als Inkonsequenz angekreidet.

Die Moral: Wenn einer schon christlichen Glauben und Kirche verläßt, dann soll es ihm wenigstens weh tun. Und wenn er konsequent, sprich: anständig ist, dann akzeptiert er die nachteiligen Folgen auch ohne Murren. Ganz nach dem Motto: Sicher waren Ketzerfolter und -mord Unrecht, aber warum mußten diese Brüder auch unbedingt aus der Reihe tanzen?

2. Entlohnung wird als Versorgung aus der Kirchensteuer interpretiert.

Weil ich Heinrich Böll zitiert habe mit dem Satz: "Die Kirchensteuer; das ist einfach kriminell, was die Kirche da macht", wurde mir im Kündigungsschreiben vorgehalten, daß ich mich in einem Widerspruch befände, wenn ich einerseits mein Entgelt in weitem Umfang aus Kirchensteuergeldern bezöge, andererseits das Kirchensteuersystem aber ablehnte. Dieser Widerspruch, verbunden mit meiner Kirchenfeindlichkeit, erfordere es, daß ich nicht länger an die "Versorgungsleitungen" der Kirche "angekettet" bliebe.

An diesem Argument ist nicht nur die Berufung auf die Kirchensteuergelder fraglich, aus denen ich angeblich "in weitem Umfang" alimentiert würde. Der Anteil der Kirchensteuermittel ist wohlweislich verschwiegen. Er dürfte sich - je nach Berechnungsmodus - zwischen unbedeutend und nahe Null bewegen.

Schlimmer noch fällt mir der Ausdruck "Versorgungsleitungen" ins Auge. Es wird zwischen dem Arbeitgeber und mir ein Mutter-Kind-Verhältnis suggeriert, in welchem jener der nur Gebende und ich der nur Nehmende bin. Er "versorgt" mich und ich habe ihm dankbar zu sein wie ein Kind für die Muttermilch und gefälligst seine Ideologie anzuerkennen. Daß ich für mein Gehalt eine entsprechende Leistung erbringe, deren Bezahlung mir der Arbeitsgeber in jedem Falle schuldet, unabhängig davon, wie er sich finanziert, wird mit diesem Begriff verschleiert.

3. Meinungsfreiheit als Handelsobjekt auf dem Arbeitsmarkt.

Das Recht der freien Meinung und der freien Religionsausübung gilt nach dem Grundgesetz für alle, auch für kirchliche Bedienstete. Nur daß diese bei bestimmten Inanspruchnahmen dieser Rechte einen hohen Preis zahlen müssen: Die Kirche läßt sich ihre Arbeitsplätze mit der Einschränkung von Grundrechten abkaufen. Und sie nimmt sich das Recht dazu. Das ist hierzulande Religionsfreiheit.

4. Die Rechtfertigung.
Glaube als Handelsware.

Das Zentraldogma der Protestanten von der Rechtfertigung besagt, daß der Glaube sich nicht auf menschliche Leistung gründet, sondern allein der Gnade Gottes zu verdanken ist. Nähme mensch dieses ernst, könnte Glaube nicht als Handelsware eingesetzt werden. Eben dies tut aber die Kirche, indem sie den Glauben zur Anstellungsbedingung und sein Fehlen zur Begründung der Entlassung macht. Glaube wird ein entscheidender Handelswert auf dem Arbeitsmarkt. So führt die Kirche ihre eigene Lehre ad absurdum. Aber sie will den Mitgliederschwund bremsen und das Kirchensteueraufkommen erhalten. Wer einen kirchlichen Arbeitsplatz braucht, bleibt im Zweifelsfalle Christ - und seine Familienmitglieder vorsichtshalber auch.