Die Weltliche Schule

Rolf Heinrich

Aus: MIZ 3/92

Von 1922 bis 1933 gab es die Weltlichen Schulen, die sich durch Konfessionsfreiheit und ihr pädagogisches Experimentierfeld auszeichneten. Die Zeit der Weimarer Republik war jedoch zu kurz, um Reformen nachhaltig im alltäglichen Leben zu festigen und erzieherisch einzubringen. Ihre Entstehungsgeschichte ist vor allem eine Geschichte des Schulkampfes um staatliche oder kirchliche Kontrolle und Einflußnahme auf das Schulleben und die Unterrichtsmethoden. Dabei entbrannte der Kampf vor allem um die Volksschulen, weil dort der Religionsunterricht mit bis zu sechs Stunden in der Woche einen großen Raum einnahm; biblische Texte wurden darüberhinaus zum Lesen- und Schreibenlernen benutzt. Die Erziehung zu Gehorsam und Demut war oberstes Ziel. Die Unterrichtsinhalte der höheren Schulen hatten sich dagegen schon stärker an die Erfordernisse der Industriegesellschaft angeglichen.

Auch in Hannover gab es Weltliche Schulen. Anläßlich einer Ausstellung im Stadtteil Vahrenwald haben sich im Herbst 1985 ehemalige Schülerinnen und Schüler der Weltlichen Schule Alemannstraße zusammengeschlossen. Sie haben sich über das Erzählen der "Geschichten aus der Schulzeit" hinaus genauer mit Hintergrund, Bedeutung und Arbeitsweise der Weltlichen Schulen beschäftigt und möchten erreichen, daß ihre Erfahrungen und Erlebnisse aus der Schulzeit nicht in Vergessenheit geraten, sondern Anlaß sind zu diskutieren, welche Parallelen es zur heutigen Schule gibt; welche Chancen genutzt, welche verspielt wurden. Am Beispiel der Schule in der Alemannstraße drehen wir das Rad der Geschichte einmal zurück:

Die revolutionären Ereignisse im November 1918 hatten das deutsche Kaiserreich beseitigt und diejenigen politischen Kräfte erstarken lassen, welche auf eine parlamentarisch-demokratische Umgestaltung Deutschlands auf der Grundlage einer bürgerlichen Verfassung drängten. Aus den Wahlen zur Nationalversammlung im Januar 1919 war die deutsche Mehrheitssozialdemokratie als stärkste politische Kraft hervorgegangen. Gleichwohl war sie gezwungen, mit dem katholischen Zentrum und den bürgerlichen Demokraten der DDP, in der sogenannten Weimarer Koalition zusammenzuarbeiten. Diese erzwungene Zusammenarbeit erschwerte das Bemühen der SPD, die Versäumnisse bei der Durchsetzung der Prinzipien der bürgerlichen Gesellschaft nunmehr endgültig zu überwinden und die Befreiung des Geistes von allen dogmatischen und weltanschaulichen Bindungen und feudalen Fesseln zu vollenden. Die Verwirklichung der Geistesfreiheit im Bildungswesen bedeutete demnach, den Kampf für die strikte Trennung von Kirche und Schule erfolgreich aufzunehmen, so wie sie bereits im Erfurter Programm der SPD von 1891 mit der Forderung nach Weltlichkeit der Schule formuliert worden war.

Die SPD hatte in ihrer Schulpolitik seit 1869 vier Zielsetzungen: Weltlichkeit, Staatlichkeit, Einheitlichkeit und Unentgeldlichkeit. Die Stellung der Kirche in der öffentlichen Erziehung und der kirchliche Einfluß auf das Bewußtsein größerer Bevölkerungskreise war jedoch trotz Krieg und revolutionärer Nachkriegszeit nahezu ungebrochen. Da die Sozialdemokratie in ihrer Mehrheit eine demokratische Partei war, mußte die Verwirklichung des ideologischen Ziels der Verweltlichung des Schulwesens an die Durchsetzungsmöglichkeit in der parlamentarischen Demokratie gebunden werden.

Bei den Beratungen des zu verabschiedenden Textes der neuen Reichsverfassung konnte die SPD ihre Forderung nach strikter Trennung von Kirche und Schule nicht durchsetzen. Sie mußte in den Verhandlungen mit ihren Koalitionsparteien erfahren, daß es für das eigene Ideal der Weltlichkeit, d.h. der konfessionellen Neutralität der Schule, keine demokratische Mehrheit gab. In Artikel 146 der Weimarer Reichsverfassung wurde vielmehr die Entscheidung, ob eine konfessionelle oder bekenntnisfreie (weltliche) Volksschule zu besuchen sei, den Erziehungsberechtigten überlassen.

Dadurch unterschieden sich die Weltlichen Schulen:

  • Es wurde kein Religionsunterricht erteilt und es gab auch keine konfessionelle Durchdringung der sonstigen Unterrichtsfächer, wie es an den anderen Schulen üblich war.
  • Jungen und Mädchen wurden gemeinsam unterrichtet.
  • Neu war die Methode des Lernens in Unterrichtsepochen, wie die ehemaligen Schülerinnen und Schüler sie bezeichneten; heute spricht man vom projektorientierten, ganzheitlichen oder interdisziplinären Lernen. In einem festgelegten Zeitraum von ein paar Tagen oder Wochen wurden zu bestimmten Themenkomplexen alle Unterrichtsfächer zusammenfassend behandelt. Sinn und Zweck dieser Methode bestand darin, Zusammenhänge zwischen den einzelnen Fächern aufzuzeigen, um ein besseres Verständnis zu ermöglichen.
  • Durch Einbeziehung von tagespolitischen Themen in den Deutschunterricht sollte das politische Bewußtsein geschult werden. Die Kinder sollten lernen, selbst zu beurteilen und zu fragen, und nicht alles als gegeben und unabänderlich hinzunehmen.
  • Freundschaft und ein partnerschaftliches Umgehen miteinander bestimmten das Verhältnis zwischen Schüler, Lehrer und Elternhaus. Die Lehrer besuchten die Kinder zu Hause; lernten dabei deren familiäre Situation und Schwierigkeiten kennen.
  • Die Kinder sollten durch die Schule Selbstbewußtsein, kritisches Denken, Toleranz und Kompromißbereitschaft erlernen.

Dieser sogenannte Weimarer Schulkompromiß bedeutete eine Festschreibung der weltanschaulich-konfessionellen Trennung. Er besagte, daß es der SPD nicht gelungen war, ihre schulpolitischen Forderungen nach Weltlichkeit des Schulsystems mit der Weltlichen Einheitsschule als Regelschule, d.h. als generelle Schulform für alle Kinder, durchzusetzen. Stattdessen wurde der bisherige schulpolitische status quo zementiert und die Weltliche Schule, die noch nicht existierte, zur "Sonderschule" für eine freidenkerische Minderheit degradiert. Ihre Einrichtungsmöglichkeit war außerdem von einem noch zu schaffenden Reichsschulgesetz abhängig. In der im August 1919 in Kraft getretenen Verfassung gab es einen sogenannten Sperrparagraphen (§174), welcher besagte, daß Veränderungen im Bildungswesen von der Verabschiedung eines Reichsschulgesetzes abhängig seien. Dessen ungeachtet begannen die Verfechter der Weltlichen Schulen - vor allem sozialdemokratische Eltern- und Lehrerverbände, in Freien Schulgesellschaften organisiert - unter Berufung auf den Verfassungsartikel §146 die preußischen Schulbehörden unter Druck zu setzen und sie zu drängen, an den Schulen besondere Klassenstufen einzurichten. Diese erhielten vorerst die offizielle Bezeichnung "Evangelische Volksschulen ohne konfessionellen Religionsunterricht", da sich die Schulverwaltung ohne rechtliche Absicherung auf eine andere Bezeichnung nicht festlegen wollte.

Die Freie Schulgesellschaft Ortsgruppe Hannover forderte in einer Eingabe an den Magistrat vom 19. Juli 1921, derartige Klassen auch in Hannover zu eröffnen, obwohl diese Art der Benennung der Weltlichen Schule "ihr im Grunde widerstrebe..." Es sollte jedoch noch länger als ein halbes Jahr dauern, bis die hannoversche Stadtschuldeputation am 11. Februar 1922 die Einrichtung von sogenannten Sammelkiassen bzw. -schulen für vom Religionsunterricht befreite Volksschulkinder beschlossen und der Regierung zur Genehmigung zugeleitet hatte. Somit konnten die ersten Sammelklassen zum Schuljahresbeginn Ostern 1922 eröffnet werden. Der Magistrat stimmte erst danach mehrheitlich der Einrichtung sogenannter Sammelklassen bzw. -schulen zu.

Die Schulbehörde richtete vorerst insgesamt 21 Sammelklassen ein, in denen dissidentische Schülerinnen und Schüler gemeinsam unterrichtet werden sollten.

Zu Beginn des Schuljahres 1922/23 konnten ungefähr 1000 hannoversche Schülerinnen und Schüler erstmals einen Schulunterricht besuchen, in dem konfessionelle Religion als Unterrichtsfach nicht mehr vorgesehen war.

Hatte die örtliche Freie Schulgesellschaft bisher die konfessionslosen Eltern aufgefordert, ihre Kinder in die neuentstehenden weltlichen Sammelklassen einschulen zu lassen, warb sie nun auch verstärkt um Zulauf aus der Lehrerschaft. Durch einen Aufruf gelang es ihr innerhalb kurzer Zeit, insgesamt 29 Lehrerinnen und Lehrer dazu zu bewegen, sich auf eine Stelle an einer Sammelklasse zu bewerben. Die Schulbehörde hatte derartige freiwillige Bewerbungen für nötig erachtet, da nach ihrer Auffassung keine Lehrkraft gegen ihren Willen an eine Sammelklasse versetzt werden dürfe. Noch im Laufe des Jahres 1922 konnten die Befürworter der Weltlichen Schulen bei der Schulbehörde die Einrichtung weiterer 16 Sammelklassen zu Ostern des folgenden Jahres durchsetzen.

Schon lange vor der Eröffnung setzte ein massiver Protest christlicher Eltern und Lehrer gegen die geplanten weltlichen Klassen, besonders in der Bürgerschule Alemannstraße ein. Die Schulverwaltung hielt dem entgegen, daß von insgesamt 315 für die Sammelklassen neu angemeldeten Kindern, nahezu ein Drittel, aus der Bürgerschule Alemannstraße stammten. Demnach brauchten aus dieser Schule von allen Schülern am wenigsten umgeschult zu werden.

Als zu Ostern 1923 die weltlichen Klassen in Vahrenwald eröffnet werden sollten, überschütteten Rektor; Lehrerkollegium und Elternbeiräte, aber auch die Gemeindeversammlung der evangelischen Lukaskirchengemeinde und nicht zuletzt Bürger- und Frauenvereine des Stadtteils Vahrenwald den Magistrat und die Schulverwaltung mit einer wahren Sturzflut von Protesterklärungen. In der Resolution hieß es, die betroffene Elternschaft habe sich zu 84 Prozent gegen die Einrichtung der Sammelklassen im Schulgebäude Alemannstraße und der damit verbundenen Ausschulung eines Teils der evangelischen Schülerschaft ausgesprochen. Würde diese Entscheidung nicht rückgängig gemacht, werde man zu Streikmaßnahmen greifen. So begann Anfang April 1923 die Geschichte der Weltlichen Schule Alemannstraße mit einer massiven Schulkontroverse. Während die Einschulung der Kinder in der Sammelschule unter dem Schutz von Polizei und einem "Selbstschutz der Freien Schulgesellschaft" erfolgte, setzte die Mehrheit der christlichen Eltern für die Dauer mehrerer Wochen einen Schulstreik durch und verhinderte den Schulbesuch ihrer Kinder.

Trotz heftiger Proteste von Kirche und Bürgertum erlebte die Weltliche Schule in den nun folgenden Jahren der relativen sozialen und politischen Stabilisierung eine aufstrebende Entwicklung.

Der Zulauf von Schülern aus freidenkerisch-proletarischen Elternhäusern wurde stärker; die Zahl der Lehrer, welche sich, motiviert durch die Aussicht, eine Pädagogik für Arbeiterkinder in die Schulpraxis umsetzen zu können, an die Schulen meldeten, wuchs beständig.

Nach fünf Jahren konnten die Verfechter der Gedanken der Weltlichen Schule auf insgesamt fünf existierende Schulen in Hannover mit insgesamt 48 Klassen verweisen. Im Verlauf der weiteren Entwicklung gelang es nach mehrmaligen vergeblichen Versuchen, die bestehenden weltlichen Schulsysteme Schritt für Schritt mit eigener Schulleitung organisatorisch zu verselbständigen. In der Bürgerschule 19, Alemannstraße, unterrichteten zu Beginn des Jahres 1932 insgesamt neun Lehrer in elf Klassen zusammen 464 Schülerinnen und Schüler.

Nur wenige Tage nach der nationalsozialistischen Machtübernahme am 30. Januar 1933 verfügte der preußische Staatskommissar die Auflösung der Weltlichen Schulen, mußte er doch bei Schülern und Lehrern eine erbitterte Gegnerschaft gegen das neue Regime vermuten. Für die Schülerinnen und Schüler bedeutete diese Maßnahme den Verlust des vertrauten Schulalltages und den Übergang an herkömmliche, konfessionell ausgerichtete Schulen. Die durch den Abbau der Klassen freiwerdenden Lehrer sollten gemäß ihrer letzten Konfession an Bekenntnisschulen versetzt werden. Einige jedoch fielen wegen ihrer Parteizugehörigkeit zur SPD, SAP (Sozialistische Arbeiterpartei) oder KPD unter die Bestimmungen des nationalsozialistischen Gesetzes zur Wiedereinführung des Berufsbeamtentums und mußten ihr schulpolitisches Engagement mit dem Verlust der persönlichen Freiheit und des ausgeübten Lehrerberufs bezahlen.

Nach 1945 gab es keine Notwendigkeit, die Diskussion um diese Schulform wiederaufzunehmen, da die Trennung von Staat und Kirche im Bildungssystem - wenigstens auf dem Papier - gegeben war. Wie es heute dagegen in der Praxis aussieht, haben wir in der MIZ schon ausführlich dokumentiert und daran wird sich in absehbarer Zeit auch leider nichts ändern.

Quelle: Weltliche Schule Alemannstraße. Geschichtliches Lesebuch Hannover Vahrenwald. Herausgegeben vom Freizeitheim Vahrenwald und dem Arbeitskreis Weltliche Schule. Für ihre freundliche Unterstützung danke ich Frau Inge Wagner Frau Dr. Lore Henkel und der Leiterin des Freizeitheimes Vahrenwald, Frau Marianne Heyden-Busch.

Zum Thema Religion/Ethik/Lebenskunde siehe auch MIZ 1/92.