Skandal um Ersatzfach Werte und Normen

Skandal um Ersatzfach "Werte und Normen"

Werden Lehrkräfte zukünftig von Theologen ausgebildet?

Aus: MIZ 1/98

Fast alle Bundesländer haben mittlerweile einen Unterricht eingerichtet, den Schülerinnen und Schüler besuchen müssen, die keiner Religionsgemeinschaft angehören oder sich vom Religionsunterricht abgemeldet haben. Nichts könnte deutlicher machen, daß es sich hierbei um eine Zwangsmaßnahme gegen Religionsflüchtlinge handelt, als die Tatsache, daß es für die Lehrkräfte, die den konfessionslosen Kindern und Jugendlichen "Ethik" beibringen sollen, keinen Studiengang bzw. eine analoge Ausbildung gibt. Einzig in Niedersachsen gibt es ein Ausbildungsseminar, an dem eine Ausbildung für das dort Werte und Normen genannte Ersatzfach angeboten wird.

1993 wurde ein Fachseminar eingerichtet, wo LehramtsanwärterInnen das notwendige philosophische, gesellschafts- und religionswissenschaftliche Wissen vermittelt werden soll. Obwohl aufgrund der Studierendenzahl keine Notwendigkeit bestanden hätte, wurde bereits im August 1996 ein zweites Fachseminar eröffnet; die Leitung des Seminars wurde einer Religionslehrkraft übertragen. Da dieser die fachliche Qualifikation in den Bezugswissenschaften fehlte, kam es von Anfang an zu Klagen über das mäßige Niveau des Unterrichts. Die Qualitätsunterschiede in der Ausbildung waren so groß, daß eine Referendarin sogar versuchte, auf administrativem Weg den Wechsel ins andere Seminar einzuklagen.

Auch der Fachverband Werte und Normen wies mehrfach auf den unhaltbaren Zustand hin. Darüberhinaus finden sich in einer Petition an den niedersächsischen Landtag vom Januar 1997 weitere Klagen. So befand sich das Fach nicht auf der offiziellen Stundentafel und für die im Fachseminar Werte und Normen-Lehrkräfte waren keine Planstellen vorgesehen; stattdessen sollten fachfremde Lehrerinnen und Lehrer mittels einer 28-tägigen Weiterbildungsmaßnahme zur Vermittlung von Werten und Normen qualifiziert werden. Für die Praxis bedeutet das, daß das Land Niedersachsen zwar Lehrkräfte für dieses Fach ausbildet, sie aber nicht einstellt (bzw. nur in ihren anderen Fächern einsetzt). "Diese Maßnahmen", heißt es in der Petition, "vermitteln den Eindruck, daß ganz bewußt ein niedriges Niveau angestrebt und eine echte fachliche Konkurrenz zu Religion befürchtet wird." Auch dem niedersächsischen Kultusminister Rolf Wernstadt und dem Regierungspräsidenten von Hannover (dem Standort des Fachseminars) wurden Kritik und Forderungen in den folgenden Monaten unterbreitet, ohne daß der Verband darauf eine Antwort erhalten hätte.

Möglicherweise stießen die Vorstellungen des Fachverbands nicht zuletzt deshalb auf so wenig Gegenliebe, weil ihre Umsetzung darauf hinauslaufen würde, daß Werte und Normen seinen Ersatzfachcharakter verlöre. Damit wäre das Abhängigkeitsverhältnis zum Religionsunterricht aufgelöst, alle Schülerinnen und Schüler könnten an einem Fach, das ethisches Grundwissen vermittelt, teilnehmen - und der konfessionelle Unterricht erhielte den Status, der ihm zukommt: ein vom Staat den Kirchen eingeräumtes Ausnahmerecht. Im März 1998 scheint es nun so, als würde eine der Forderungen der Interessenvertretung erfüllt: wie zu erfahren war, wird derzeit erwogen, die beiden Fachseminare zusammenzulegen. Tatsächlich ist dies aufgrund der geringen Auslastung und angesichts knapper Kassen durchaus vernünftig. Eine Schließung des jüngeren Instituts wäre aufgrund der mangelnden Qualifikation des Seminarleiters der naheliegendste Schritt. Doch bereits das konsequente Ignorieren sämtlicher Eingaben des Fachverbands in dieser Frage, legt die Vermutung nahe, daß im niedersächsischen Kultusministerium anders disponiert wird. Schlimmstenfalls könnte die Situation entstehen, daß in Niedersachsen zukünftig die Lehrer, die Schülerinnen und Schüler unterrichten, die sich ganz bewußt gegen den Religionsunterricht entschieden haben, von einem Religionslehrer ausgebildet werden.

Auch wenn die Sache möglicherweise noch nicht definitiv entschieden ist, bleibt doch einige Fragen: Warum richtet das Kultusministerium erst einen Studiengang zur Ausbildung für Lehrkräfte für das Ersatzfach ein, läßt dann aber nichts unversucht, das Niveau des Faches wieder abzusenken? Warum wird ein zweites Seminar eingerichtet, für das bereits bei der Eröffnung kein Bedarf bestand? Warum wird ausgerechnet eine Religionslehrkraft ohne entsprechende Qualifikation in den Bezugswissenschaften zum Seminarleiter berufen? Alles Zufall oder gezielte Einflußnahme? Welche Interessen könnten da dahinterstecken? Beim Bundesverfassungsgericht ist derzeit eine Klage gegen den Pflichtcharakter des Ersatzfaches anhängig; die Praxis der Landesregierung liefert den Richtern geradezu die Argumente gegen die umstrittenen Konstruktion als Zwangsfach für Religionsflüchtlinge.

Eine Frage wird am Ende dieser Affäre zumindest tendenziell beantwortet sein: was Konfessionslose von einer sozialdemokratischen Bundesregierung zu erwarten haben. Denn mit seinem bisherigen Kurs stellt das niedersächsische Kultusministerium geradezu plakativ eine Mißachtung der Weltanschauungsfreiheit zur Schau. Und wenn das Verhalten einer Schröder-geführten Landesregierung Rückschlüsse auf eine Schröder-geführte Bundesregierung zuläßt, könnte das in diesem Fall nur heißen, daß der Schutz von Minderheitenrechten offensichtlich keine sehr hohe Priorität genießt.

gs