Gentechnik - Alptraum oder Rettung?

Aus: IBKA Rundbrief Dezember 2002

Sterbehilfe, Pränatale Diagnostik und Gentechnik sind sehr umstrittene Themen, auch im IBKA. Zu einigen gibt es vielleicht auch deshalb keine eigene Stellungnahme des IBKA. Dies kann in Zukunft auch durchaus so bleiben. Nichtsdestotrotz sollten wir über die ethischen Fragen der Gentechnik offen diskutieren können und nicht den Kirchen das Feld schweigend überlassen. Nachdem im Rundbrief Juli 2002, S. 19/20, bereits zwei kontroverse Stellungnahmen zur Sterbehilfe veröffentlicht wurden, gibt diesmal das IBKA-Mitglied Roman Veith, Biologiestudent, einen provozierenden Diskussionsanstoß zur Gentechnik.


Roman Veith

Krankheit ist seit jeher Geißel der Menschheit, ja des ganzen Lebens. Ich möchte hier den Blick einmal auf die angeborenen Krankheiten richten. Die Medizin hat im Laufe der letzten Jahrzehnte erstaunliche Fortschritte gemacht. Wir sind heute in der Lage, viel Leiden zu lindern. Einem zuckerkranken Jugendlichen, zum Beispiel, wird heute durch die Medizin ein recht unbeschwertes ‚Leben' ermöglicht. Hier ist die Rede von einer Krankheit, die in der Medizin "Diabetes mellitus Typ I" genannt wird. Sie ist eine Autoimmunerkrankung, ihre Ausprägung ist in den Genen festgelegt. Der genetisch bedingte Defekt besteht darin, dass das körpereigene Immunsystem den Syntheseort des Blutzucker regulierenden Stoffes "Insulin" angreift und der Körper die Fähigkeit einbüßt, Insulin selbst zu produzieren. War früher die Zuckerkrankheit lebensbedrohlich, so hat die moderne Medizin den Mechanismus der Blutzuckerspiegelregulation längst beschrieben und somit alle Voraussetzungen für eine Behandlung der Erkrankung geschaffen. Insulin - der für den Diabetiker lebenswichtige Stoff - wurde bis vor Jahren aus der Bauchspeicheldrüse von Schlachttieren gewonnen, was ein schwerwiegendes ethisches Problem darstellten könnte, wenn dieser Gewinnungsprozess aufgrund von großem Bedarf aus dem Ruder laufen würde und Tiere nur aufgrund der Insulingewinnung geschlachtet würden: Ist es rechtens, den Tod vieler Tiere in Kauf zu nehmen, um einem kranken Menschen ein weitgehend unbeschwertes Leben zu ermöglichen? (Ich wage zu behaupten, dass ich mir eine christlich geprägte Meinung zu dem Thema angesichts der "Seelenlehre" vorstellen kann.)

Die Gentechnik übrigens war es, die uns von der nahenden Problematik dieser Frage befreit hat: Heute wird Insulin gentechnisch hergestellt, das heißt, Bakterien erhalten die zur Produktion von Insulin nötigen Gene und stellen so kleine Fabriken dar, die uns laufend und recht unproblematisch den lebenswichtigen Stoff liefern.

Aber das ist es nicht, worauf ich eigentlich hinaus wollte. Viele genetisch bedingte Krankheiten sind heute insoweit behandelbar, dass sie für den Betroffenen kaum mehr in Erscheinung treten. (Oft hört man aber das Gerücht kursieren, dass es - wie im Falle des Zuckerkranken - die Möglichkeit einer Heilung gebe. Das ist natürlich falsch. Auch wenn die Krankheit gut zu behandeln ist, heilbar ist sie es mit der Methodik nicht, denn der genetische Defekt bleibt bestehen!). Der Kranke führt

also ein unbeschwertes Leben, kann einen Partner finden, Kinder bekommen und sein Leben bis ins hohe Alter genießen.

Aber genau da liegt der Punkt. Die moderne Medizin ermöglicht es uns, medikamentös einen genetisch bedingten physiologischen, aber auch anatomischen Defekt so zu regulieren, dass der betroffene Patient sich letzten Endes genauso gut fortpflanzen kann, wie ein nicht von der jeweiligen Krankheit Betroffener auch.

Das "Problem" liegt darin, dass wir modernen Menschen es aus eigener Kraft geschafft haben, uns der natürlichen Selektion zu entziehen, indem die moderne Medizin entwickelt wurde, aber auch, weil wir einen Moralkanon entworfen haben, der uns ein sinnvolles Zusammenleben ermöglicht und der die gegenseitige Umsorgung mit einschließt - der sich zur Aufgabe gemacht hat, Leben zu retten. Ich möchte hier mit keinem Stück diesen Moralkanon, den ich nach allen Kräften unterstütze, kritisieren, geschweige denn ihm den Sinn absprechen. Das ist es nicht, worauf ich hinaus will (aber was an dieser Stelle schon öfter in Gesprächen vermutet wurde)! Nein, ich sehe diesen Moralkanon als höchst sinnvoll an, und gerade darum mache ich mir Gedanken, wie dieser denn aufrechterhalten werden kann. Denn wir können uns nicht vor der Tatsache verschließen, wir müssen es einmal auf den Punkt bringen: Die Gefahr, dass die Menschheit durch die moderne Medizin langfristig immer kranker wird, ist real!

Um noch einmal auf das Beispiel des Zuckerkranken zurückzukommen: zu Zeiten, in denen der Mensch noch gänzlich abhängig war von der vollen Funktionstüchtigkeit seiner Organe und anatomischen Strukturen, die moderne Medizin also noch nicht den heutigen Stand erreicht hatte, stellte die Zuckerkrankheit (die genetisch bedingte Variante) praktisch ein Todesurteil dar. Betroffene Individuen erreichten meist (wenn überhaupt) gerade erst das zeugungsfähige Alter. Sie lebten nicht lange genug, um in der Lage zu sein, Kinder zu bekommen und diesen dann - mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit - ihre "kranken" Gene zu vererben! Das Problem der Zuckerkrankheit löste sich also aufgrund der natürlichen Selektion von selbst. Die Natur der Evolution "sorgte" dafür, dass krankmachende Gene, wie sie immer wieder durch Mutation entstehen können (Mutation ist eine der Grundsäulen der Evolution!), nicht überlebten, sich also nicht durchsetzten.

Und genau das sieht heute anders aus. Die moderne Medizin "schützt" uns mit jedem neuen Fortschritt in der Behandlung genetisch bedingter Krankheiten ein Stück weit vor der natürlichen Selektion. Die genetischen Defekte werden also keinesfalls ausgesondert, im Gegenteil, sie häufen sich aufgrund der guten medizinischen Versorgung noch an!

Haben wir erst einmal diese reelle Gefahr erkannt, stellt sich natürlich die Frage, was denn nun ein Ausweg sei? Zurück in die Steinzeit und damit zurück in die volle Abhängigkeit von der natürlichen Selektion können und sollen wir nicht, und unsere moralischen Grundsätze zu verneinen, wäre - untertrieben ausgedrückt - fatal!

Die unter diesen Umständen einzige Möglichkeit stellt die Gentechnik dar. Pränatale Diagnostik (ich meine hier speziell im Hinblick auf Erbkrankheiten) und gentechnische Behandlung stellen hier die einzig sinnvolle und unter gegebenen Voraussetzungen mögliche Variante dar.

Nun werden die Kritiker die Hände über dem Kopf zusammenschlagen und Leuten wie mir Begriffe wie "gottgleiche Selektion", "KZ-ähnliche Methoden" oder ähnlich "sinnvolle und wirklich gut überdachte" Schlagwörter an den Kopf werfen. Aber diese Leute haben, abgesehen davon, dass derartige Anschuldigungen sowieso

nicht von sonderlich viel Vernunft zeugen, die Gefahr nicht erkannt bzw. die Notwenigkeit eines Gegensteuerns nicht begriffen. Wenn wir nicht wollen, dass wir uns - überspitzt formuliert - langfristig in eine, um es mit den Worten Hoimar von Ditfurths zu sagen, "Prothesengesellschaft" verwandeln, müssen wir handeln! Gut kritisieren lässt sich immer, aber die Frage ist ja, ob die Kritik auch angesichts der Notwendigkeit zu handeln überhaupt Sinn macht oder berechtigt ist. Eine Notwendigkeit besteht absolut!

Denn es ist ja nicht der Aspekt des rein subjektiven "Wollens", der die Erfordernis untermauert, den Menschen von Erbkrankheiten zu befreien! Überdenkt man die Situation kritisch, so sieht es langfristig so aus, dass immer mehr Menschen krankmachende Gene in sich tragen und somit immer abhängiger von der Medizin bzw. den Pharmaunternehmen werden. Letztere werden da mit Sicherheit nicht das große Problem sehen (ganz im kapitalistischen Sinne), doch stellt sich die Frage: Wer soll die Kosten tragen?

Vielleicht wird es am Beispiel der Zuckerkrankheit nicht wirklich deutlich, aber wir reden hier auch von der Bluterkrankheit, der großen Palette genetisch bedingter Herz-Kreislauf-Leiden, genetische Anfälligkeiten für bestimmte Krankheiten und nicht zuletzt auch Krebs - die Liste hat keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Je besser wir nach und nach in der genetischen Forschung vorankommen, desto mehr zeichnet sich ab, wie sehr die Gene bzw. "Defekte" dieser mit allen möglichen Krankheiten zusammenhängen (und seien es nur Anfälligkeiten für bestimmte Erkrankungen).

Genetisch bedingte Krankheiten sind am ausgewachsenen Menschen immer nur zu behandeln! Eine Heilung ist nicht möglich, denn das würde theoretisch bedeuten, dass in jeder Körperzelle die genetischen Informationen geändert werden müssten. Trotzdem würde jeder vernünftige Mensch, der (unbeschwert) leben will - und ich gehe mal davon aus, dass das den Regelfall darstellt - sofort eine solche Möglichkeit, wenn es sie denn gäbe, nutzen! Schließlich würde das wirklich Heilung bedeuten.

Am ausgewachsenen Menschen ist diese Veränderung des Erbgutes, die einzige Möglichkeit wirklich zu heilen, wie gesagt nicht möglich. Aber am jungen Menschen, im Zellstadium, ist das sehr wohl möglich. Der ganze Mensch geht im Endeffekt auf eine Zelle - die Zygote, d.h. die befruchtete Eizelle - zurück. Genetische Informationen, die dort geändert werden, wirken sich später auf den ganzen Körper aus, denn jede Körperzelle ist ein Nachkomme der Zygote.

Ich frage mich, worin die ethische Problematik bestehen soll, eine Krankheit vor ihrem Ausbruch bereits zu heilen, nur mit dem Unterschied, dass dies hier bereits vor der Geburt geschieht. Nichts anderes ist, so gesehen, eine Impfung. Nicht nur, dass dem Betroffenen viel Leid erspart bliebe, nein, wir könnten auch dafür sorgen, dass in unserer Gesellschaft wieder garantiert wird, dass die krankmachenden Gene ausgesondert werden, was ein ganz natürlicher Vorgang ist, und wir können trotzdem unseren bewährten Moralkanon aufrechterhalten!

Hat irgendein Kritiker eine bessere Möglichkeit angesichts der nahenden Gefahr einer durch und durch kranken Menschheit zu bieten? Mir ist keine bekannt.

Natürlich besteht auch die Gefahr, dass diese ursprünglich zur Behandlung gedachte genetische Veränderungsmöglichkeit in falsche Hände gerät und Missbrauch (aus Sicht der ursprünglichen Absicht) betrieben wird. Aber das kann nicht heißen, dass wir diese Möglichkeit mit all

ihren Vorteilen daher vollkommen über den Haufen werfen müssen. Allein schon aufgrund der Tatsache, dass es gar keine andere Möglichkeit gibt, uns von dem Trend zur immer kränkeren Gesellschaft zu entfernen, ist das einfach Unsinn.

Niemand beschwert sich, wenn es darum geht - wie oben schon angesprochen - Mikroorganismen genetisch zu verändern, natürlich zum Wohle des Lebens. Doch damit wird auch der Gefahr Tür und Tor geöffnet, dass Kriminelle in der Lage sind, mit der gleichen Methodik biologische Waffen herzustellen und sie gegen die Menschen zu verwenden. Und trotzdem kämen wir nie auf die Idee, sämtliches Arbeiten mit Mikroorganismen zu verbieten, nur weil die Methodik neben vielen Vorteilen auch große Gefahren birgt.

Die Gefahr der unbefugten Benutzung besteht immer und überall und ich will diese keineswegs abschwächen. Es ist absolut notwendig Regeln aufzustellen, die dem Thema "genetische Veränderung an menschlichen Zellen" bzw. "Heilung von Krankheiten" Grenzen setzen, und das sollte Grundsatz unserer Diskussion werden. Nicht aber, ob es überhaupt sinnvoll ist, genetische Veränderungen vorzunehmen, kranke Gene betreffend! Verbauen wir uns diese Möglichkeit, werden wir langfristig ins Verderben laufen oder womöglich Zeiten wiedererleben, die niemand wiedererleben möchte.

Was ist es wirklich, das die Kirchen antreibt, gegen fast jede neue biotechnologische Forschungsmethode, sofern sie das menschliche Erbgut betrifft, anzugehen? Steckt im Gerede von der "Unverfügbarkeit" nicht selbst eine absolutistische Verfügung, deren Urheber sich durch angewandte Wissenschaft ansonsten ganz banal den letzten Illusionen ihres Schöpfungsmythos beraubt wähnen müssen? Was bleibt noch von einer Institution, welche dem Leiden gerne einen Sinn abzwecken möchte und am Leidenden seit über 1000 Jahren so eifrig materiell und "spirituell" prosperiert?

Fazit: Um es mit den Worten Hoimar v. Ditfurths zu sagen, auf dessen Artikel zu dem Thema ich mich maßgeblich gestützt habe: Gentechnik, die einzige Rettung, wenn wir unseren Moralkanon aufrecht erhalten möchten und auch in hundert Jahren noch ohne massive Hilfe lebensfähig sein wollen. "Wir haben gar keine andere Wahl".

Literatur:

Ditfurth, Hoimar von: Unbegreifliche Realität, Hamburg, 1987; hieraus der Artikel "Wir haben gar keine andere Wahl. Eine Lanze für die Gen-Technologie", S. 292-299

Campbell, Neil A.: Biologie, Heidelberg, 1997