Bundestags-Chat: Europa und Kirche

Irene Nickel

Aus: IBKA Rundbrief Mai 2003

"Europa und Kirche" und "Soziales Europa" waren die Themen einer Online-Konferenz am 11.2.2003, 17-18 Uhr. Eingeladen hatte der Vertreter des Deutschen Bundestages im Europäischen Konvent, Prof. Dr. Jürgen Meyer, SPD. Im Europäischen Konvent soll ein Entwurf für eine Europäische Verfassung erarbeitet werden, mit der Charta der Grundrechte der Europäischen Union als Kernstück.

16 Interessierte meldeten sich zu Wort; bekannte Namen waren nicht darunter. Dieser eher geringe Andrang hatte seine Vorteile für die Beteiligten: Sie mussten nicht lange auf eine Antwort von Prof. Meyer warten, die meisten nur etwa 5-20 Minuten. Einige nutzten die Möglichkeit, Nachfragen zu stellen.

Von den 36 Fragen hatten 20 einen Bezug zu Kirchen und/oder Religion, 12 davon bezogen sich auf eine Frage, die in der Ankündigung der Online-Konferenz gestellt worden war: "Sollte die Präambel der Europäischen Verfassung einen Religions- und/oder Gottesbezug aufweisen?"

Gottesbezug

Zwei Teilnehmer sprachen sich für einen Gottesbezug aus, eine Teilnehmerin gegen "eine Einbindung des christlichen Erbes", eine weitere (ich) gegen ein "Bekenntnis zur Existenz Gottes". Die restlichen Wortmeldungen dazu enthielten Fragen, aber keine oder keine eindeutig erkennbaren Meinungen.

Gefragt wurde u. a., was unter dem "geistig-religiösen" Erbe zu verstehen sei, das in der Präambel der Charta der Grundrechte der EU erwähnt wird. Prof. Meyer erläuterte, es handle sich um die Übersetzung des französischen Begriffes "spirituel"; das bedeute auch, dass der Begriff nicht eingeengt als "religiöses" Erbe verstanden werden könne.

[Eine so gute Übereinstimmung zwischen dem offiziellen deutschen Text und dem französischen sieht nicht jeder. Die Frankfurter Rundschau kommentierte am 16.10.2000: "Eine Besonderheit gibt es in dem Entwurf. In der Präambel der englischen und französischen Fassung taucht der Verweis auf das religiöse Erbe nicht auf." Im französischen Text heißt es "patrimoine spirituel", im englischen Text "spiritual heritage". Beides könnte einfach als "geistiges Erbe" übersetzt werden. Siehe dazu auch IBKA-Rundbrief Dezember 2000, Seite 23/24.]

Jemand fragte, ob eine ausdrückliche Berufung auf das christliche Erbe Europas nicht die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei erschweren könnte. Dazu Prof. Meyer: "Ja, der von Ihnen erwähnte Vorschlag ist in der Anfangsphase des Herzog-Konvents tatsächlich von einzelnen Delegierten gemacht und dann aufgegeben worden. Der Versuch, die Türkei gewissermaßen durch die Verfassung aus der EU heraus zu definieren, ist also gescheitert." Außerdem bemerkte Prof. Meyer in diesem Zusammenhang: "Das 'religiöse Erbe' beinhaltet nicht nur die christliche Kultur des Abendlandes, sondern beispielsweise auch die jüdische. Außerdem darf nicht übersehen werden, dass bereits vor der Erweiterung viele Anhänger des Islam in der Europäischen Union leben."

Das Problem einer "Ausgrenzung anderer Religionsgemeinschaften und nichtchristlicher Menschen" sah eine Teilnehmerin bei einer Einbindung des christlichen Erbes in die Verfassung.

Formulierungen wie "in ihrer Verantwortung vor Gott" oder "in Ehrfurcht vor Gott" nahm ich aufs Korn: "Solche Formulierungen ergeben nur dann einen Sinn, wenn die Existenz Gottes vorausgesetzt wird. So schließen sie ein Bekenntnis zur Existenz Gottes ein. Ein solches Bekenntnis wäre alles andere als religiös neutral. Wäre es in einer Verfassung einer neutralen EU nicht ebenso fehl am Platze wie ein Bekenntnis zum Atheismus?"

"Das ist die Auffassung einer großen Mehrheit der Konventsdelegierten", antwortete Prof. Meyer. "Zum geistig-religiösen Erbe Europas gehört eben auch die Toleranz und der Respekt vor Weltanschauungen wie Atheismus oder Agnostizismus."

Zum Wunsch nach einem Gottesbezug in der Verfassung meinte Prof. Meyer, die Chancen dafür seien gering. Jedoch: "Wichtiger ist mir der Respekt vor der entgegenstehenden Verfassungsauffassung einer großen Mehrheit der derzeitigen und der künftigen Mitgliedstaaten der EU."

"Persönlich" könnte Prof. Meyer "mit einer offenen Formulierung wie in der Präambel der polnischen Verfassung gut leben, weil so der Respekt vor Andersdenkenden in der Form einer verfassungsrechtlichen Neutralitätsklausel zum Ausdruck kommt." Auf meine Nachfrage hin schrieb Prof. Meyer: "Der polnische Text lautet etwa: Die Verfassung berücksichtigt 'die Werte derer, die an Gott als Quelle der Wahrheit, Gerechtigkeit, Güte und Herrlichkeit glauben, ebenso wie jener, die diesen Glauben nicht teilen, aber diese fundamentalen Werte abgeleitet aus anderen Quellen respektieren'."

Als jedoch ein Teilnehmer das zu einem "tollen Ergebnis dieser Chatrunde" machen wollte, wandte Prof. Meyer ein: "Ich bin eher dafür, die polnische Formel in die Auslegung der Präambel der Grundrechtecharta hinein zu interpretieren. Ein Aufschnüren des Präambeltextes würde mit Sicherheit die Initiative auslösen, den von Roman Herzog mit entwickelten Begriff "geistig-religiös" durch "spirituell" zu ersetzen. Ich bin auch deshalb für die unveränderte Aufnahme der Grundrechtecharta nebst Präambel in die Verfassung, weil der 2. Konvent seine anderen Aufgaben in den nächsten drei bis vier Monaten unter großem Zeitdruck erfüllen muss."

Rechtliche Stellung der Kirchen

Prof. Meyer beantwortete Fragen nach Artikel 140 GG, der Artikel 136, 137, 138, 139 und 141 der Weimarer Verfassung zu Bestandteilen des Grundgesetzes erklärt. Dazu gehört u. a. das Recht, seine religiöse Überzeugung nicht zu offenbaren und nicht an religiösen Übungen teilzunehmen - aber auch das Selbstverwaltungsrecht der Kirchen, ihr Status als Körperschaften des öffentlichen Rechtes, die Kirchensteuer, der Schutz von Sonn- und staatlich anerkannten Feiertagen.

"Über Art. 53 der Charta ist die Geltung von Art. 140 GG gesichert", so Prof. Meyer. Allerdings: "Die besondere Stellung der Kirchen in Deutschland, wie sie durch das Kirchenkonkordat begründet und durch Art. 140 GG anerkannt ist, lässt sich sicher nicht für die gesamte EU verbindlich machen."

Erziehung

In Artikel 14 der Charta ist die Rede von einem "Recht der Eltern, die Erziehung und den Unterricht ihrer Kinder entsprechend ihren eigenen religiösen, weltanschaulichen und erzieherischen Überzeugungen sicherzustellen". Dazu fragte ich: "Ist nicht zu befürchten, dass religiös fundamentalistische Eltern dies Recht benutzen, um ihre Kinder in einer religiösen oder weltanschaulichen geistigen Monokultur aufwachsen zu lassen? Und ihnen dadurch die geistigen Anregungen, die durch Begegnungen mit Andersdenkenden möglich werden, vorzuenthalten? Wie kann das Recht von Kindern auf vielfältige Anregungen und Herausforderungen gewahrt werden?"

Prof. Meyer antwortete: "Art. 14 der Charta ist eine Anerkennung des Elternrechts, für die ich mich im 1. Konvent persönlich eingesetzt habe. Dieses Recht darf allerdings nicht missbraucht werden. Das Missbrauchsverbot steht in Art. 54 der Charta. Für Deutschland kommt hinzu, dass das Schulwesen unter der Aufsicht des Staates steht (Art. 7 GG)."

Eine Antwort, die leider wenig darüber sagt, ob und in welchen Fällen das von mir kritisierte Elternverhalten unter das Missbrauchsverbot fällt. Möglicherweise ist die Lösung dieses Problems nicht auf der Verfassungsebene zu suchen, sondern auf der Ebene von Gesetzgebung, Verordnungen und Rechtsprechung.

Diskriminierung von Konfessionslosen auf dem Arbeitsmarkt

Ich beschrieb die Praxis von vielen kirchlichen Einrichtungen im sozialen Bereich - Kindergärten, Krankenhäusern, Heimen für Alte und Behinderte u.a.m. -, nur Kirchenmitglieder einzustellen, und die nachteiligen Auswirkungen dieser Praxis auf konfessionslose Arbeitssuchende. Ich fragte: "Muss einer solchen Diskriminierung nicht Einhalt geboten werden?

Dazu erklärte Prof. Meyer: "Was die Verfassung zur Lösung der beschriebenen Probleme beitragen kann, steht in Art. 21 der Charta (ausdrückliches Verbot der Diskriminierung z.B. wegen der Religion oder der Weltanschauung)."

Ich fragte nach: "Sehen Sie Gründe zu der Annahme, dass Art. 21 der Charta wirkungsvoller werden könnte als Artikel 3 und 4 des Grundgesetzes?"

Antwort: "Ja, weil Art. 21 ein generelles Diskriminierungsverbot enthält, das nicht auf einzelne Merkmale beschränkt ist."

Artikel 21 Absatz 1 der Charta lautet: "Diskriminierungen, insbesondere wegen des Geschlechts, der Rasse, der Hautfarbe, der ethnischen oder sozialen Herkunft, der genetischen Merkmale, der Sprache, der Religion oder der Weltanschauung, der politischen oder sonstigen Anschauung, der Zugehörigkeit zu einer nationalen Minderheit, des Vermögens, der Geburt, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung, sind verboten."

Kommentar:

Dessen ungeachtet sind die staatskirchenrechtlichen Privilegien der Kirchen weitgehend über die Amsterdamer Verträge gesichert. Die Umsetzung einer EU-Richtlinie zur Antidiskriminierung ist bislang in Deutschland gescheitert. Weiterhin bemüht sich die Kirchenlobby, einen "Gottesbezug" in die EU-Verfassung zu bringen und auch einen "Kirchenartikel" durchzusetzen. Diese Punkte werden - und dann auf Jahrzehnte hinaus wohl abschließend - in diesem Jahr festgelegt werden.

Eine Einführung ins Thema und die Transkripte der Online-Konferenz sind auf der Website des Bundestages nachlesbar: www.bundestag.de/blickpkt/konferenzen/2003/eu_konvent.html