(386) Sep/Dez 1980. Die innerkirchliche Auseinandersetzung zwischen katholischen Hierarchen und
sozial- und gesellschaftspolitisch engagierten Theologen ist Ende 1980 in der Bundesrepublik Deutschland in ein neues Stadium
getreten: Mit ungewöhnlicher Schärfe attackierte der Theologieprofessor Nikolaus Koch (Witten/Ruhr) den Vorsitzenden der
westdeutschen Bischofskonferenz, Josef Höffner, und seine Amtsbrüder in zwei offenen Briefen (25.September/1. Dezember 1980):
"Wenn Sie aus Ihrem klerikalen Muckertum nicht in offene Freiheit christlichen Glaubens finden und den christlichen Namen noch
länger für dieses Muckertum mißbrauchen, blockieren Sie sich und Ihren Hörigen wirksames christliches Engagement in der Welt.
Sie machen sich mitschuldig am drohenden Holocaust von 100, 200, 500 und 1000 Millionen Kindern, Frauen und Männern... Sollte
sich der Verdacht erhärten, daß Sie den Papst in Tendenzen zu einem klerikalen Europa bestärken, so werde ich das mir Mögliche
tun, die lebensgefährlichen Folgen politischen Wahns abwenden zu helfen." Das zweite Schreiben des couragierten
Theologieprofessors vom 1. Dezember 1980 trägt den Titel: "Gegen die antirevolutionäre Mißdeutung des christlichen Glaubens".
Darin analysiert Koch nicht nur die Situation der westdeutschen Kirche nach dem Papstbesuch, sondern er rechnet auch mit dem
gegenwärtigen Papst rigoros ab. Für Nikolaus Koch steht fest, "daß Johannes Paul II. die offene Freiheit christlichen Glaubens
nicht anders als römisch-mittelalterlich-gegenreformatorisch verfremdet, sie nur durch das vatikanische Gitter
juristisch-institutionalistisch-etatistischer Sperren wahrzunehmen vermag... Und auf deutschem Boden wird ihm statt Hilfe zur
offenen Freiheit christlichen Glaubens ein serviles Obskuratentum geboten, das das Mittelalter und die nachmittelalterliche
Entwicklung von der Reformation bis zum weltrevolutionären Marxismus nicht kritisch aufarbeitet und im guten aber schwachen
Willen zur Ökumene alle klerikalen Ladenhüter bewahrt, die zwar manche Schönheit und viel Tradition für sich, den freien
christlichen Glauben und die offene Menschlichkeit aber gegen sich haben." Dem Vorsitzenden der westdeutschen
Bischofskonferenz, Höffner, bescheinigt Koch: "Sie spielen sich auf, als seien Sie 'die Kirche', als sei Ihr Hirtentheater 'der
christliche Glaube', als seien Ihre mittelalterlich-barocken Kuriositäten 'das Heil der Welt'. Sie scheinen blind für den
Abgrund zu sein, der Ihr Kirchspiel von den realen Aufgaben und Chancen christlichen Glaubens in der sich zum Untergang
rüstenden Welt scheidet. Sie scheinen den Blutpreis nicht zu kennen, den Katholiken und Nichtkatholiken zu zahlen haben, wenn
Ihr Spiel noch lange währt. Und bisher haben Sie demonstriert, daß Sie Ihr Theater weiterspielen wollen, solange die Bühne
hält." Nikolaus Koch fährt fort: "Das allgemeine Unbehagen wächst weiter. Es wird zum Bruch führen, wenn Sie nicht endlich
aufhören, den christlichen Glauben mit dem Mittelalter zu verwechseln... Am heraufziehenden Holocaust von 500 Millionen oder
1000 Millionen Kindern, Frauen und Männern werden Staatsverschuldung, Antipillenfanatismus und kirchlicher Ruf nach Gefängnis
für Frauen, die ihre Schwangerschaft abbrechen, zu Randfragen. Sie und Ihre Mitbischöfe sollten sich besser um Ihre Mitschuld
am drohenden Holocaust kümmern. Noch immer schwärt die Politik weiter, mit der Pius XII. die ganze antisozialistische Welt zum
Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion zu verleiten suchte. Noch immer sind die klerikalen Perversionen nicht aufgearbeitet,
die der päpstliche Intimus Gustav Gundlach vor 20 Jahren dem Clerus major, dem Clerus minor und allen Schafen der
Bundesrepublik unwidersprochen zuzumuten wagte: klerikale Gutheißung atomarer Weltzerstörung, klerikale Gleichsetzung
christlicher Gewaltlosigkeit und Liebe mit Ohnmacht, klerikale Verabsolutierung mittelalterlicher Rechtsordnung, klerikales
festhalten an Militärtheologie im Dienste etablierter Gewalt... Für wie schafsmäßig müssen Sie die Schafe innerhalb und
außerhalb des Kirchenzauns halten, wenn Sie so tun, als gebe es eine selbstverständliche und eindeutige 'kirchliche
Soziallehre'. Wenn die französische Revolution den Clerus major nicht aus dem barocken Faulbett herausgeworfen hätte und wenn
die sozialistische Weltbewegung den Kirchenapparat nicht in Konkurrenznot gebracht hätte, würden wohl auch heute noch die
klerikalen Ladenhüter des Mittelalters und der Barockzeit die 'kirchliche Soziallehre' ausmachen."
In diesem Zusammenhang erwähnt Koch die Verleihung des vatikanischen Gregoriusordens im Herbst 1980 an Otto von Habsburg:
"Die vatikanische Auszeichnung ist mehr als eine kuriose Erinnerung an vergangene Zeiten. Im Zusammenhang mit manchen
verwandten Aktivitäten dient sie dem Wahn eines klerikalen Europa, das zwischen der Sowjetunion und den USA unabhängig das
Mittelalter als christliche Gemeinschaft der Völker in der naturrechtlich-göttlichen Tradition des heiligen römischen Reiches
restauriert. Ausgesprochen und diplomatisch verdeckt lebt dieser Wahn in zahlreichen Publikationen und Demonstrationen
klerikaler Einzelner, klerikaler Organisationen und klerikaler Parteiungen. Unter dem Titel 'Vatikan und Habsburg -
Weichensteller der Reaktion' dokumentiert ihn das Heft 3/80 der Zeitschrift Materialien und Informationen zur Zeit. Der
Umstand, daß die Zeitschrift sich 'Politisches Journal der Konfessionslosen und Atheisten' nennt, sollte niemand abhalten, die
Angaben zu lesen und zu prüfen ... Aber vorläufig rangiert der romantische Wahn eines erneuerten heiligen Reiches voran.
'Naturrecht', 'göttliches Recht' und 'Gottesgnadentum' werden gehandelt, als gäbe es die weltrevolutionäre Öffnung des
geschlossenen Mittelalters nicht ..." Schließlich sieht Koch "die wahre Chance eines christlichen Europa" darin, "sich aus den
beiden Weltblöcken zu lösen, im Innern eine starke, im Gewissen fundierte Grundordnung des kulturellen, wirtschaftlichen und
politischen Zusammenlebens aller europäischen Völker zu entwickeln, den USA wie der Sowjetunion ziviles Vertrauen zu geben".
Nach Nikolaus Koch ist "der christliche Dienst, der mir, Ihnen und uns Allen ziemt", die Verwirklichung der "allgemeinen
Menschenwürde und der elementarsten Menschenrechte auf gesundes Loben, auf Bildung, auf Arbeit, auf Muße und auf solidarische
Hilfe in der Not".