Frauenleben im islamischen Patriarchat

Heike Fischer

"Männer sollen vor Frauen bevorzugt werden..."1

Aus: MIZ 2/95

Religion ist eine Tochter der Furcht und der Hoffnung, die der Unwissenheit die Natur des Unbegreiflichen erklärt.

Ambrose Bierce

Wir leben in einer Welt, deren technische Entwicklung immer schneller vonstatten geht, ohne daß die geistig-emotionale Entwicklung der Menschen mithalten kann. Für viele Leute ist es wesentlich einfacher und "sicherer", sich auf die Überlieferung zu verlassen und danach zu leben, als sich selbst in dieser komplexen Welt Gedanken über Sinn- und Wertfindung zu machen. Insbesondere die Anhängerschaft der Buchreligionen greift mitunter zu recht rigiden Methoden, um den von Autoritäten verkündeten Weg zu Glück und Wohlergehen möglichst vielen Menschen näherzubringen, mögen diese es wollen oder nicht.

Der Islam bildet hierbei keine Ausnahme. In sehr vielen islamischen Staaten bestehen große wirtschaftliche und soziale Probleme (Säuglings- und Kindersterblichkeit, Analphabetenrate, Arbeitslosigkeit), die von den herrschenden Regierungen offensichtlich nicht gelöst werden. Das ist die Lücke, in die die Islamisten stoßen können, da der einfachste Weg zu Frieden und Glück der Weg des Glaubens und Vertrauens auf die Auslegung der Schrift zu sein scheint. Nun kann man Schriften so und anders auslegen. Insbesondere, wie Männer Frauen behandeln, ist einerseits im Koran beschrieben, in z.T. stark divergierender Weise, andererseits durch Traditionen nicht-islamischen Ursprungs geprägt. Dabei spielt insbesondere die Polygamie, die familiäre Rangordnung, die Partnerwahl, die Bewegungsfreiheit von Frauen in der sozialen Gemeinschaft und die verbreitete Praxis der Klitorisbeschneidung eine wichtige Rolle.

Soziale Probleme auf dem Rücken von Frauen zu lösen, scheint ein sehr gangbarer Weg zu sein. Zur Rechtfertigung bieten nicht zuletzt die Religionen geeignete Argumente, natürlich auch der Islam. Deshalb lohnt es sich, vor der Schilderung des alltäglichen Lebens von Frauen einen kurzen Blick auf die Rechtsquellen und den daraus abgeleiteten Moralkodex zu werfen.

Die Religion, die von Mohammed als dem Gesandten Gottes im siebten Jahrhundert n.d.Z. verkündet wurde, heißt "Islam". Das bedeutet soviel wie "Hingabe", "Friede" oder "Unterwerfung unter den Willen Gottes". Für den gläubigen Muslim gilt der Koran als Wort Gottes, das durch den Engel Gabriel dem Propheten Mohammed eingegeben wurde, und dieser als der Letzte, das "Siegel" der Propheten. Was die früheren Offenbarungen (Thora und Evangelium) an Fragen offen ließen, wird im Koran, soweit Gott es will, erläutert und klargestellt und als absolut verbindlich und zuverlässig angesehen (Absolutheitsanspruch). Der Koran ist somit Hauptquelle des Glaubens und letzte Instanz in der Feststellung der gesetzlichen Bestimmungen. Seine Verordnungen bestimmen das religiöse, soziale und politische Leben in der islamischen Gemeinschaft (Umma). Als Ergänzung und Verdeutlichung der Schriften des Koran dient die überlieferte vorbildliche Lebensführung des Propheten (Sunna). Einerseits stellt sie eine Erläuterung der Gebote und Verbote des Korans dar, andererseits dient sie zur Verdeutlichung von Vorschriften allgemeiner Natur sowie als Ergänzung dessen, was nicht ausdrücklich im Koran steht. Die Rechtswissenschaft erkannte im Lauf der Zeit noch zwei andere Wege der Rechtsfindung an: den Analogieschluß und den Konsensus. Mittels der so entstehenden sekundären Rechtsquellen können die Rechtsgelehrten mit "selbständiger Geistestätigkeit" auf der Grundlage von Koran und Sunna eine Antwort auf die vorliegende Frage finden. Es gibt also zwei Bereiche, die völlig voneinander getrennt sind: die Quellen, Koran und Sunna, ihrer göttlichen Natur wegen völlig unantastbar, und das aus den Quellen durch verschiedene Methoden abgeleitete Rechtssystem, das in bestimmten Fällen auch den Brauch und das Gewohnheitsrecht anerkennt.

Menschliche Taten werden in gebotene und verbotene, empfohlene und mißbilligte, aber erlaubte Handlungen eingeteilt. Um die moralische Qualität einer Handlung festzustellen, muß die Absicht des Menschen berücksichtigt werden, dann der Bezug der Tat auf Gott, auf das menschliche Leben und endlich auf das, was das Leben sichert und fördert. Wer sich gegen Gott, das Leben und das Eigentum des anderen versündigt, hat die Möglichkeit, durch Reue, Umkehr und gute Werke das Wohlwollen Gottes und die Vergebung seiner Sünden zu erlangen.

Rechtliche Grundlage der Ungleichheit: Das Familienrecht

An erster Stelle steht der Glaube an Gott und der Gehorsam gegen seinen Willen, die Erfüllung der religiösen Pflichten sowie Demut, Dankbarkeit und Geduld. Es ist geboten, die Eltern zu ehren und sie mit Dankbarkeit und Fürsorge zu behandeln. Der Koran wendet sich gegen Gewalttätigkeit, verbietet Mord, läßt Blutrache zwar zu, empfiehlt jedoch den Verzicht darauf. Gerechtigkeit wird zu einer Tugend der Muslime erhoben. Zinsnehmen wird als Wucher bezeichnet und die rechte Behandlung der Armen, Schwachen, Reisenden und friedfertigen Ungläubigen angeraten, doch solle man Strenge gegen die Ungläubigen walten lassen. Eigentumsdelikte werden hart bestraft (Hand abhacken). Menschliche Liebe und Sexualität werden bejaht, Homosexualität und Unzucht verurteilt.

Die Machtlosigkeit von Frauen wird im Familienrechtsteil der Sheria festgeschrieben: Da der Mann verpflichtet ist, die (Groß-)Familie zu versorgen, werden ihm sehr weitgehende Rechte zugestanden. Auf der ökonomischen Ebene wird ihm aus dieser Verpflichtung heraus ein größerer Erbteil zugebilligt und das Recht, seiner Ehefrau die Berufstätigkeit zu verbieten. Das Sorgerecht für die Kinder liegt ab einem bestimmten Alter der Kinder automatisch beim Mann. Während sich Männer formlos von ihrer Frau trennen können, ohne ihr dies auch nur mitteilen zu müssen, ist die Scheidung für Frauen nur unter bestimmten, sehr unwahrscheinlichen Umständen möglich. Im Falle einer Trennung hat die Frau lediglich Anspruch auf ihr Brautgeld. Die Vorherrschaft des Mannes in der Ehe wird durch die Gehorsamspflicht der Ehefrau und das Züchtigungsrecht des Ehemannes festgelegt. Der Mann hat außerdem das Recht, sich mehrere Ehefrauen zu nehmen. Bei nichtehelichen sexuellen Beziehungen werden nur selten beide beteiligten Personen ausgepeitscht; die Todesstrafe ist ausschließlich für Frauen vorgesehen. Eine über jeden Verdacht erhabene Frau sollte am besten überhaupt nicht mit Männer außerhalb des engsten Familienkreises in Kontakt kommen. Die rechtliche Konsequenz aus solchen Vorstellungen ist die Geschlechtersegregation.

Die Sheria war jedoch nie durchgehend Praxis und wird derzeit nur in Saudi-Arabien und im Iran weitgehend angewendet, Einfluß auf die Gesetzgebung hat sie jedoch in allen islamischen Staaten. Die Aussagen des Korans sind in sehr widersprüchlicher Art und Weise auslegbar und selbst grundlegende Angelegenheiten wie die Polygamie und Geschlechtersegregation können vom Koran her auch abgelehnt werden.

Es gibt eine Vielzahl von Ländern, in denen der Trend zur Islamisierung mehr oder minder starken Einfluß auf das tradierte tägliche Leben nimmt. Aus diesen Vorstellungen zeichnen sich trotz aller kulturell bedingten Unterschiede folgende Verhaltensmuster ab, die für Frauen weitreichende Folgen haben. Nicht jeder Punkt ist in jedem Land gültig; die extremsten Erscheinungen, die nur in einigen Ländern gelten, wurden weggelassen.

Frauen sind auf jeden Fall für die Reproduktion zuständig und im Prinzip auf den häuslichen Bereich beschränkt. Das durchschnittliche Alter der Mädchen bei der Eheschließung liegt bei 11 bis 16 Jahren. Theoretisch ist ihre Einwilligung erforderlich, in der Praxis hat sie kein Mitspracherecht; falls sie ihren zukünftigen Gatten ablehnt, erfährt sie sehr häufig extreme Sanktionen. Ihre Jungfräulichkeit ist zentraler Ausdruck ihrer Wertschätzung. Sollte das Hymen bei einem Unfall verletzt worden sein, wird dies ärztlich attestiert (soweit dies möglich ist), damit das Mädchen überhaupt noch zu verheiraten ist. Bei den Männern liegt das durchschnittliche Alter bei der Eheschließung bei 17 bis 30 Jahren. Sie werden zwar auch nicht gefragt, weil die Ehen von den Familienoberhäuptern arrangiert werden, dennoch erleben sie bei Ablehnung der Braut in spe nur sozialen Druck. Ihr voreheliches Verhalten ist gleichgültig. Der Ehemann erhält bei der Heirat das Gewaltrecht über die Frau, das zuvor bei den männlichen Verwandten liegt. Das bedeutet beispielsweise, daß Frauen Besuche nur mit Erlaubnis des Mannes empfangen oder machen dürfen. Lediglich Besuche bei den eigenen Eltern sind gesetzlich geregelt, um ein Minimum zu garantieren; jeden Kontakt außerhalb der Verwandtschaft kann der Mann verbieten. Obwohl die Frauen für den häuslichen Bereich zuständig sind, unterliegen sie auch hier dem Willen des Mannes. Dies äußert sich auch im Sorgerecht, das die Mutter nur solange hat, bis die Kinder "aus dem Gröbsten heraus" sind; die Söhne, bis sie etwa fünf, die Töchter, bis sie etwa neun bis elf Jahre alt sind (und damit fast schon im heiratsfähigen Alter). Danach geht das Sorgerecht auf den Vater über. Geburtenkontrolle widerspricht dem Potenzethos der (Männer)gesellschaft.

Es ist für Frauen sehr schwierig, sich von ihrem Mann zu trennen. Eine Frau darf ohne Erlaubnis ihres Mannes keinen Reisepaß erhalten und das Land nicht verlassen. Sie kann mit Polizeigewalt gezwungen werden, zu ihrem Mann zurückzukehren: im Haus der Verwandten des Mannes oder einer dafür vorgesehenen Beamtin bleibt sie eingesperrt, bis sie sich "einsichtig" zeigt. Strebt die Frau die Scheidung an, müssen bestimmte, unwahrscheinliche Umstände vorliegen und das (aus Männern bestehende) Gericht muß für sie entscheiden. Sie bekommt keine Alimente, sondern erhält ihr Brautgeld ausgezahlt. Häufig verzichtet sie sogar darauf und darf dafür ihre Kinder sehen. Von Männern hingegen darf die Scheidung ohne Angabe von Gründen jederzeit selbst ausgesprochen werden. Unter Umständen braucht er die Frau noch nicht einmal davon zu informieren. Um zu kontrollieren, ob die Frau schwanger ist, dürfen sich Frauen erst nach drei bis neun Monaten wieder verheiraten, Männer jederzeit.

Es gibt ein Sprichwort: "Eine gute Frau ist nur zweimal in ihrem Leben auf der Straße zu sehen: das erste Mal, wenn sie als Braut in das Haus ihres Gatten kommt und das zweite Mal, wenn sie es auf der Bahre wieder verläßt". Dies illustriert sehr anschaulich die Erwartung, mit der muslimische Frauen leben müssen. Und dies wird nicht immer nur als erstrebenswertes Ideal angesehen, sondern mitunter gesetzlich untermauert. In sehr vielen anderen Ländern ist die Bewegungsfreiheit der Frauen durch die vorgeschriebene Kleidung sehr stark behindert und auf hintere Straßen beschränkt. Jedes Verlassen des Hauses untersteht der Entscheidung des Ehemannes oder Vaters. Frauen haben nur selten und sehr begrenzt die Möglichkeit, an öffentlichen Ereignissen teilzunehmen, selbst religiöse Veranstaltungen finden oft unter Ausschluß der Frauen statt oder verweisen Frauen hinter eine getrennte Absperrung. Die meisten Lokale und sonstigen Freizeitorte sind nur für Männer gedacht, manchmal gibt es einen abgetrennten Teil für Frauen. Die "Öffentlichkeit" ist männlich.

Der Status einer Frau als Staatsbürgerin ist sehr unvollständig. In der Mehrheit der Länder haben Frauen das Wahlrecht, in einigen nicht (z.B. Kuwait). Frauen üben dieses Recht allerdings oft nicht aus, weil das den Segregationsvorschriften widersprechen würde. Die meisten öffentlichen Ämter dürfen von Frauen nicht ausgeübt werden. Die Minderwertigkeit von Frauen äußert sich in schwerwiegender Weise auch vor Gericht. Die Aussage einer weiblichen Zeugin ist halb so gewichtig wie die eines Mannes. In manchen Ländern beträgt ihr persönlicher Wert im Todesfall oder nach einer Verletzung nur die Hälfte des Wertes eines Mannes. Sie kann gegen ihren Willen auf Jungfräulichkeit, Schwangerschaft etc. untersucht werden, so daß noch nicht einmal ihr Recht auf körperliche Unversehrtheit gewährleistet ist. Ein Mann erhält mit der Volljährigkeit alle staatsbürgerlichen Rechte.

Bei all diesen Details bleibt eines konstant, und das ist die Abwertung von Frauen. Im Iran wurden Gesetze verabschiedet, die das Blutgeld für Mord an einer Frau halb so hoch ansetzen wie für Mord an einem Mann. Grotesk, aber konsequent: Tötet die Familie einer ermordeten Frau aus Rache den Mörder, muß sie an seine Familie noch den halben Betrag für einen Mord nachzahlen, weil die Frau, die er umgebracht hat, ja nur halb soviel wert war wie er, der Mörder...

Was bedeuten diese rigide Einschränkungen für die Betroffenen? Ein Ingenieur, der fünf Jahre in Deutschland gelebt hatte, glaubte bei seiner siebzehnjährigen Schwester Anzeichen einer Schwangerschaft zu entdecken. In ihrem Zimmer fand er Tabletten, die er für ein Abtreibungsmittel hielt. Außer sich vor Wut stürzte er sich auf seine Schwester und erstach sie. Bei der Obduktion stellte sich heraus, das seine Schwester nicht nur nicht schwanger, sondern durchaus jungfräulich gestorben war. Die Tabletten waren ein Blutdruckmittel und ihre körperlichen Veränderungen, die ihm aufgefallen waren, darauf zurückzuführen, daß ein Mädchen mit siebzehn eben gerundeter ist als eine zwölfjährige. Das Gericht sprach den Bruder frei, da er nur im Sinne der Familienehre gehandelt habe, wenn auch irrtümlich. Was ist denn diese "Familienehre"? Männlich.

Die Frau ist die Ehre des Mannes, dem sie zugewiesen wird, sie ist sein "Namus", ein Wort, das auch seine Geschlechtsorgane beschreibt. Im herrschenden Ehrenkodex hat die Frau selbst keine Ehre, sie ist die Trägerin der Mannes- und Familienehre. Sie kann entehrt werden, aber der Verlust der Ehre trifft den Mann, dem sie (an)gehört. Während die persönliche Ehre des Mannes von seinen Handlungen abhängt, stellt die Ehrenhaftigkeit der Frau mehr einen Zustand dar; der Zustand der Jungfräulichkeit und der Keuschheit gibt den Ausschlag. Selbst wenn sie ohne eigenes Zutun entehrt wird (Entführung, Vergewaltigung), kann die Familienehre durch keine Handlung ihrerseits wiederhergestellt werden, erst wenn die Frau tot ist, gilt die Familienehre als reetabliert. Nun wird nicht an das Verantwortungsbewußtsein oder an das Ehrgefühl der Frauen appelliert, die Tugend der Frauen wird dadurch gehütet, daß sie keine Gelegenheit zum Fehlverhalten bekommen. Wobei es auch noch ein Sprichwort gibt, demzufolge man(n) Frauen nicht aus dem Haus lassen soll, weil sie dann die Gelegenheit zur Flucht nutzen...

"Eine Frau ist ein reines Wesen und kann durch ihre Schönheit leicht anziehend wirken. Wenn man etwas Schönes zur Schau stellt, zieht man damit nur eine Menge dreckiges Ungeziefer an, das bloß darauf wartet, sich darauf zu stürzen und es zu beschmutzen", schrieb ein islamischer Autor und verrät damit viel über seine Einschätzung islamischer Männlichkeit. Frauen gelten als Personifikation sexueller Macht und sind daher für die Männer ausschließlich als sexuelle Wesen denkbar. Erscheint die Silhouette einer Frau, ist dies ein Signal zu einer sexuellen Reaktion der Männer. Daß es unter solchen Umständen für die Frauen eine Erleichterung bedeutet, sich unter den Tschador zu flüchten, kann man durchaus nachvollziehen. Die Schamhaftigkeit, mit der sexuelle Themen vermieden werden, verkehrt sich rigide, sobald es bei einer Heirat um das Thema Jungfräulichkeit geht. Vor den Hochzeitsgästen werden Gesicht und Körper der Braut vollständig verhüllt, weibliche Gäste dürfen gegen symbolische Bezahlung einiger Münzen das Gesicht der Braut betrachten, aber der Zustand des Hymens ist allgemeiner Gesprächsstoff der Hochzeitsgesellschaft und es gehört oft zum "guten Ton", bei Hochzeiten vor der Tür des Schlafzimmers den Bräutigam anzufeuern, auf den Schrei der Braut zu warten und das blutige Tuch zur Schau zu stellen. Ein Bräutigam, der die Jungfräulichkeit der Braut anzweifelt, stürmt aus dem Zimmer und alarmiert die Umgebung. Eine große Schar von Frauen eilt ins Schlafgemach und untersucht das Mädchen. Besteht immer noch ein Zweifel, werden die Expertinnen geholt, meist alte Frauen oder Ärztinnen. Es kommt auch vor, daß die Familie der Braut das Mädchen mitten in der Nacht ins Krankenhaus bringt, um ihre Jungfräulichkeit feststellen zu lassen. Welchen Schock das für ein Mädchen bedeutet, bislang peinlichst verborgene Körperteile zur Hauptattraktion gemacht zu sehen, kann man sich nur schwer vorstellen. Eine vollständigere Reduzierung der Frau auf ihre sexuelle Funktion ist kaum noch denkbar. Da die Geschlechter nicht miteinander, sondern nebeneinander leben, nehmen sich Männer die Chance, Frauen als komplette Menschen kennenzulernen. Dabei ist der Zwang zum Tragen des Schleiers und die Geschlechtersegregation nicht im Koran festgeschrieben, sondern, wie auch die Erlaubnis der Polygamie, eine Sache der Interpretation ("Der Schleier soll in den Augen der Männer sein" ist von Mohammed überliefert).

Aber der Unterschied zwischen Theorie und Praxis ist in islamischen Gesellschaften eben auch gegeben: sicher ist der Mann eigentlich verpflichtet, seine Frau zu fragen, ob sie mit einer zweiten (dritten, vierten) Frau einverstanden ist. Der Druck, den die Familie der Frau ausüben kann, ist aber so groß, daß Nebenfrauen oftmals schlicht verheimlicht werden. Bei Beerdigungen von Männern kommt es vor, daß unbekannte Frauen mit und ohne Nachwuchs am Grab stehen, die eben auch ihren Gatten verloren haben. Ebenso kann es bei "korrekter" Anwendung der männlichen Überwachung zu grotesken Szenen kommen: Zwei Schwestern aus Saudi-Arabien wollten in den USA promovieren. Der Vater konnte aus geschäftlichen Gründen nicht mitkommen und den beiden volljährigen Frauen, die noch nicht verheiratet waren, wurde von den Behörden auferlegt, ihren Bruder als "mahram" (eine Art männliche Anstandsdame) mitzunehmen. Nun war der Bruder erst elf Jahre alt und, was die Behörden auch wußten, behindert und auf dem Stand eines Zweijährigen. Das Ergebnis war, daß die Schwestern ihre Mutter mitnehmen mußten, damit diese den Bruder versorgen konnte, der auf die Schwestern aufpassen sollte.

Nicht allen Begebenheiten dieser Art läßt sich eine komische Note abgewinnen. Denn die Vorschriften werden oft so eng ausgelegt, daß die Frauen systematisch kontrolliert und damit auch terrorisiert werden. Faribah, eine 55jährige Iranerin, berichtet: "Zwei Pasdaran [Wächter der Revolution, H.F.] brachten, mich in eine Zelle. Einer hielt eine Peitsche in der Hand. Sie fesselten mich mit dem Gesicht nach unten mit Handschellen auf eine Holzpritsche. Ich dachte mir, das ist doch nicht islamisch, wie kann eine religiöse Regierung es zulassen, daß Männer so mit Frauen umgehen?

Und dann begannen sie, mich auszupeitschen. Ich glaube, was sie mir angetan haben, hat mich seelisch schlimmer verletzt, als körperlich. Irgendwie war ich wie betäubt und habe die Schmerzen kaum bemerkt, so schockiert war ich über das, was passierte. Ich fühlte mich völlig hilflos und ausgeliefert. Diese Ohnmacht! Man hat mir meine ganze Würde genommen. Es war einfach widerwärtig und demütigend. Und es war genauso verletzend wie eine Vergewaltigung. Das Erlebnis hat mich in vieler Hinsicht verändert. Seitdem habe ich immer Angst, wenn ich ausgehe. Mir ist da auch bewußt geworden, was diese Regierung von Frauen hält. Ist es denn normal, in einem Land zu leben, in dem eine Frau sich erst häßlich machen muß, bevor sie das Haus verlassen darf? Wo niemand es wagt, in der Öffentlichkeit zu lachen?"

Wofür ist Faribah so bestraft worden? Sie hat sich, in den Augen der Gesetzeshüter, nicht wie eine gute Muslimin benommen: Beim Einkaufen, als sie beide Hände voll hatte, war ihr Kopftuch aus der Stirn gerutscht und eine Strähne ihres Haares war zu sehen, was die "Wächter der Revolution" bei einem Kontrollgang bemerkten. Dies kann im Iran ein bis zwölf Monate Gefängnis und/oder 80 Peitschenhiebe bedeuten.

Die Mißhandlung des weiblichen Körpers hängt jedoch nicht von individuellem "Fehlverhalten" ab. Die weibliche Variante der Beschneidung wird häufig als "altes muslimisches Ritual" bezeichnet. In Wirklichkeit ist sie älter als der Islam. Im Koran findet sich nur eine kurze Erwähnung, in der es heißt: In Medina pflegte eine Frau die Beschneidung durchzuführen. Der Prophet sagte zu ihr: "Schneide nicht zu heftig, das ist besser für die Frau und besser für den Ehemann". Aber dieses - immer noch umstrittene - Hadith (Überlieferung) ist der Grund, warum einige islamische Gelehrte der Shafi-Schule(Ostafrika) die "Beschneidung" der Mädchen als obligatorisch ansehen. Andere Rechtsschulen gehen davon aus, das sie nur empfohlen wird, aber nicht unbedingt zwingend durchgeführt werden muß. Hundert Millionen Frauen sind so verstümmelt worden. Es gibt verschiedene Methoden. Im "günstigsten" Fall wird den Mädchen die Spitze und die sie umhüllende Hautschicht der Klitoris, in den meisten Fällen jedoch das ganze Organ mit einer Glasscherbe, einem schartigen Messer, einer rostigen Schere oder einer Rasierklinge herausgeschnitten oder herausgebrannt. Die Bezeichnung für diese "leichteste" Form des Eingriffs ist "Sunna", das arabische Wort für Tradition. Bei der sog. pharaonischen Beschneidung wird die gesamte Vulva entfernt und die Öffnung, meist mit Dornen oder Darm oder sonst einem verfügbaren Material, zugenäht. Das Genital der Frau muß häufig mit einem Messer wieder aufgetrennt werden, um den Verkehr vollziehen zu können oder eine Geburt möglich zu machen. Alle diese Eingriffe werden in den meisten Fällen ohne Betäubung ausgeführt, es sei denn, man befindet sich in einer Klinik in London, die sich auf die "Beschneidung" von Töchtern der arabischen Oberschicht spezialisiert hat, sehr fortschrittlich: hygienisch einwandfrei und unter Narkose(!)2.

Der Islam beschreibt eine stark hierarchisch gegliederte Gesellschaftsordnung, in der die Alten vor den Jungen und die Männer vor den Frauen bevorzugt werden. Es wäre dennoch durchaus möglich, Gesetze, die im Koran erwähnt werden, frauen- und damit auch menschenfreundlicher auszulegen. Daß dies nicht so gehandhabt wird, liegt nicht unbedingt im Islam begründet, sondern in der erzkonservativen Grundhaltung der männlichen Autoritäten, die die günstige Gelegenheit nutzen, Geschlechterverhältnisse wiederherzustellen,.die mehr als archaisch anmuten. Das hat für die Männer zwar auch keine angenehmen Konsequenzen, doch mangels schönerer Erfahrungen, insbesondere im Bereich der Sexualität und des Familienlebens/der Partnerschaft, merken diese das nur in Ausnahmefällen. Schade. Nicht nur schade, sondern unerträglich ist es hingegen, daß, auch von westlicher Seite, gravierende Menschenrechtsverletzungen unter dem Vorwand der "Nichteinmischung in fremde Kulturen" toleriert werden (Stichwort Entwicklungshilfe), ohne daß jemand auf die Idee kommt, mal zu prüfen, weshalb eigentlich derartig viele Frauen im Wochenbett verrecken (weil nämlich nur der Sohn wichtig genug ist, um die Mühe auf sich zu nehmen, eventuell eine/n Ärztin/Arzt zu holen) oder warum die Kindersterblichkeit so hoch ist (weil unbedingt Söhne verlangt werden und Mädchen, insbesondere bei dem oft anzutreffenden Nahrungsmangel, nicht "durchgefüttert" werden, sondern eben unnützer Ballast sind, zumal die Mütter bei solchen "Fehlproduktionen" möglichst schnell mit einem Sohn schwanger werden sollen). Die Reihenfolge, in der gestorben wird, ist völlig klar und eindeutig: erst die Mädchen, dann die Frauen, dann die Jungen und dann erst die Männer. Ein klare Wertigkeit3.

Sa'id al-Ashmawy, Ägyptens oberster Richter:

"Die Rechtsvorschriften des Koran sind ziemlich begrenzt, und es gibt, verglichen mit der Gesamtzahl der Verse, verhältnismäßig wenige relevante Stellen. Der Koran enthält etwa 6.200 Verse, von denen sich nur 200 - die meisten davon sind inzwischen außer Kraft gesetzt - mit Rechtsfragen beschäftigen. Die 80 Verse, die noch übriggeblieben sind, behandeln vor allem den persönlichen Status und das Erbrecht. Der Koran ist im wesentlichen ein ethischer Kodex und kein Gesetzbuch. Trotzdem glauben die militanten Islamisten, daß das islamische Recht von Gott verkündet werde, und sie unterscheiden dabei nicht zwischen religiösen Gesetzen und dem Rechtssystem, das später angefügt wurde. Ein großer Teil dessen, was heute als Scharia betrachtet wird, wurde Jahrhunderte nach dem Tod des Propheten von Herrschern hinzugefügt, die sich selbst auf diese Weise unter dem Deckmantel der Religion für heilig erklärten. (...)

Im Koran werden nur vier Strafen erwähnt, die von einem Gericht verhängt werden können: Amputation einer Hand bei Diebstahl, Auspeitschen bei Ehebruch, Auspeitschen als Strafe für denjenigen, der eine Frau ungerechtfertigt des Ehebruches bezichtigt und Gefängnis oder Tod bei Straßenraub. Der Koran erwähnt außerdem eine Anzahl von Voraussetzungen, die erfüllt sein mußten, bevor solche Strafen verhängt werden durften (keine Amputation bei Diebstahl aus Armut) und die Todesstrafe für Apostasie wird im Koran überhaupt nicht erwähnt. In Wirklichkeit betont der Koran sogar die Religionsfreiheit des Einzelnen. Darüberhinaus enthält er einige Gesetze, die nur vorübergehend in Kraft waren. So wurden z.B. die Sklaverei und das Konkubinat abgeschafft. (...)

Ähnlich ist es mit dem Begriff Jihad. Er bedeutet im Koran im wesentlichen Selbstkontrolle und Selbstläuterung. Wenn sich das Wort Jihad auf Krieg bezieht, bezeichnet es nur den Akt der Selbstverteidigung. Der Koran verbietet jeden Jihad als ausschließlich aggressiven Akt. Die Lehre der militanten Islamisten stellt nicht nur eine Bedrohung des Friedens und der Menschheit dar, sie unterminiert auch den Islam selbst, verfälscht seine großartigen Lehren und versetzt seinem lebendigen Geist und seiner Menschlichkeit den Todesstoß".

zitiert nach Jan Godwin, "Der Himmel der Frau ist unter den Füßen ihres Mannes", S. 460

Anmerkungen:

1 Koran, Vierte Sure, Vers 35.

2 Eine Menschenrechtsorganisation, die sich gegen die weibliche Beschneidung wendet, ist Terre des Femmes, Postfach 2565, 72015 Tübingen.

3 Weiterführende Literatur:

Benard, Cheryl und Edit Schlaffer: Die Grenzen des Geschlechts. Anleitungen zum Sturz des Internationalen Patriarchats. Reinbek 1984.

Benard, Cheryl und Edit Schlaffer: Das Gewissen der Männer. Geschlecht und Moral - Reportagen aus der orientalischen Despotie. Reinbek 1992.

Fatimas Töchter. Frauen im Islam. Hrsg. von Edith Laudowicz. Köln 1992.

Goodwin, Jan: "Der Himmel der Frau ist unter den Füßen ihres Mannes". Muslimische Frauen erzählen. Bergisch-Gladbach 1995.

Haas, Herta: Lebenslange Wunde. Genitale Verstümmelung bei Mädchen. In: Dr. med. Mabuse 95, April 1995, S. 36f.

Hourani, Albert: Die Geschichte der arabischen Völker. Frankfurt 1992.

Khoury, Adel Th.: Was ist los in der islamischen Welt? Die Konflikte verstehen. Freiburg 1991.

Kogelfranz, Siegfried: Bittere Rosinen. Wie Fundamentalisten Frauen weltweit erniedrigen und deren Sexualität unterdrücken. In: Spiegel Spezial, Mai 1995, S. 100-103.

Saadawi, Nawal el: Tschador. Frauen im Islam. Bremen 1991.