Bundesverfassungsgericht zum § 218 StGB - Entscheidung gegen den gesellschaftlichen Konsens

Ingrid Kaemmerer

Aus: MIZ 3/93

Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur 218-Reform ist in der gesamten BRD auf heftige Empörung und großen Widerstand gestoßen. Und das hat vielfältige Gründe. Beim Lesen des Urteils wird man/frau immer wieder damit konfrontiert, in welchem Maß der Text mit unglaublicher Frauenverachtung durchsetzt ist.

Hier nur einige Zeilen dazu, wie die Richter über die Verantwortung der Frau denken:

"Auch wenn die Beratungsregelung den Frauen Verantwortung bei der Entscheidung über das Austragen ihres Kindes zutraut und mit der Beratung ein Verfahren zur Verfügung stellt, das ihnen die notwendige normative Orientierung und Ermutigung zum Kind geben kann, wäre es gleichwohl mit der rechtsstaatlichen Ordnung des Grundgesetzes unvereinbar, wenn die an dem Konflikt existentiell beteiligten Frauen selbst mit rechtlicher Erheblichkeit feststellten, ob eine Lage gegeben ist, bei der das Austragen des Kindes unzumutbar ist und deshalb der Abbruch der Schwangerschaft auch von der Verfassung wegen erlaubt werden kann. Die Frauen würden dann in eigener Sache über Recht und Unrecht befinden. Das läßt der Rechtsstaat auch und gerade in der besonderen Situation der 'Zweiheit in der Einheit' nicht zu".

Weiter, wie soll man/frau jenes Konstrukt verstehen, wonach die Frau zwar selber nun doch über den Abbruch entscheiden kann, keinen Arzt mehr benötigt, der ihr die Notlage bescheinigt, aber just, weil sie selber entscheidet, ist der Eingriff rechtswidrig, und weil er rechtswidrig ist, darf er von der Krankenkasse nicht mehr finanziert werden.

Bevor die Frau den Abbruch vornehmen läßt, hat sie sich einer Beratung zu unterziehen; das Beratungsverfahren wurde schon im Urteil bis ins Detail auf verschiedenen Ebenen festgelegt.

Auch dieser Teil des Urteils ist insofern bemerkenswert, als - ein Novum in der BRD auf dem Gebiet der Beratung - die Richter ganz offen eine Art Diktatur errichtet haben:

"Der Staat darf, unabhängig davon, ob es sich um staatliche, kommunale oder private Träger handelt, nur solchen Einrichtungen die Beratung anvertrauen, die nach ihrer Organisation, nach ihrer Grundeinstellung zum Schutz des ungeborenen Lebens, wie sie in ihren verbindlichen Handlungsmaßstäben und öffentlichen Verlautbarungen zum Ausdruck kommt, sowie durch das bei ihnen tätige Personal die Gewähr dafür bieten, daß die Beratung im Sinne der verfassungsrechtlichen und gesetzlichen Vorgaben erfolgt."

Dr. Ingrid Kaemmerer ist Ärztin, und war lange Jahre Redaktionsmitglied der MIZ.

Die Berater bzw. die Träger der Beratung müssen eine Verpflichtungserklärung unterschreiben, wonach "sie sich verpflichten, die Beratungen in Schwangerschaftskonflikten nach Maßgabe des Urteils und der Anordnung des BVG vom 28.5.93 vorzunehmen".

Bisher galt es als Charakteristikum totalitärer Staaten, Meinungen zu manipulieren und Zensur auszuüben. Unter dem Vorwand, ungeborenes Leben zu schützen, sollen nur noch Berater bzw. Institutionen zur Beratung zugelassen werden, welche die Linie der katholischen Moraltheologie gegenüber der Frau vertreten.

Als der Zweite Senat vor der Entscheidung stand, die vom Bundestag verabschiedete 218-Reform zuzulassen, gab es sicher noch bei nicht wenigen die Hoffnung, die drei SPD-Richter und die parteilose Richterin würden es zu einem Patt kommen lassen, dann wäre die Reform gerettet gewesen. Nichts davon!

Die beiden SPD-Richter Mahrenholz und Sommer stellen in ihrem Minderheitenvotum eingangs u.a. immerhin fest, daß Frauen zu allen Zeiten selbst unter schwerster Strafandrohung sich nicht von einem Abbruch abhalten ließen und "entsprechend ihrer gewandelten gesellschaftlichen Stellung lösen Frauen heute diesen fundamentalen Lebenskonflikt vornehmlich danach, ob sie nach eigener Einschätzung in ihrer konkreten Lebenssituation die Möglichkeit erkennen, die Aufgabe einer Mutter verantwortlich zu erfüllen". Weiter heißt es dann: "Jede Regelung des Schwangerschaftsabbruchs wirft die Frage nach dem Bereich unantastbarer Autonomie des Menschen einerseits und dem Recht des Staates zu Regelungen andererseits auf; der Gesetzgeber befindet sich hier an der Grenze der Regelungsfähigkeit eines Lebensbereiches überhaupt. Er kann sich der Problematik des Schwangerschaftsabbruchs mit einer besseren oder mit einer schlechteren Regelung nähern; 'lösen' kann er sie nicht." Im Widerspruch zu dieser Äußerung heißt es dann zur Beratungsregelung, daß sie (Mahrenholz und Sommer) sie mit der Mehrheit des Senats mittragen.

Der katholische SPD-Richter Böckenförde - selbst "Lebensschützer" - mochte in seinem Minderheitenvotum nicht alle Frauen mit dem Odium der Rechtswidrigkeit belasten, denn, so sorgte er sich: "mit welchen 'Konsequenzen' würde der Rechtsstaat sich gegen sich selber wenden". So ist auch er gegen die Aufhebung der Krankenkassenfinanzierung. Ansonsten geht er noch viel weniger liberal mit der Alleinverantwortung der Frau um als Mahrenholz und Sommer. In Fragen des Kirchenrechts tritt er durchaus für eine Trennung von Staat und Kirche ein. Erwin Fischer schreibt in seinem Buch Volkskirche ade!: "aber gerade zur Menschenwürde hat Böckenförde ausgeführt, dieser interpretationsbedürftige Begriff könne nicht von einem der konkurrierenden religiösen oder weltanschaulichen Sinn- oder Verbindlichkeitsangeboten her ausgelegt werden. (...) das würde berechtigterweise als Verstoß gegen die staatliche Neutralität angesehen -, sondern von der verbleibenden Allgemeinheit dieses Staates oder einem allgemeinen, in der Gesellschaft bestehenden Konsens".

Obwohl mehrere Umfragen in der Bevölkerung zum §218 ergeben haben, daß in der Gesellschaft 70% für die Fristenlösung ohne Zwangsberatung sind, war er nicht bereit, diesen Konsens in der Gesellschaft in seinem Urteil zu berücksichtigen, welches ja auch die Menschenwürde der Frau hergestellt hätte.

Die von der SPD für den Zweiten Senat nominierte parteilose evangelische Richterin Karin Graßhof hat kein Sondervotum abgegeben, sondern sich voll und ganz der Mehrheitsmeinung der CDU/CSU-Kollegen angeschlossen.

Am Verhalten dieser SPD-Richter, die nicht über ihren konfessionellen Schatten springen können, wird auch deutlich, daß der SPD die kirchlichen Ideologieproduzenten immer noch viel zu wenig ins Blickfeld geraten sind, was allerdings auch für Teile der Grünen gilt. Auf der einen Seite gibt es eine immer größere Strömung an der Basis, die sich von der Kirche wegbewegt; auf der anderen Seite haben wir immer noch eine Minderheit von großem Einfluß: hohe Funktionsträger beider großen Kirchen zusammen mit dem rechts-außen-Spektrum religiöser Fundamentalisten, den frauenfeindlichen Lebensschützern, letztere immer besser organisiert und eingedrungen in wichtige politische Gremien und auch in den rechten Parteien vertreten.

Diese Leute gehen immer noch davon aus, daß sie allein legitimiert sind, für die ganze Gesellschaft verbindlich zu erklären, nach welcher Werteordnung sie zu leben hat.

Der über 120jährige Kampf gegen den §218 ist immer noch nicht beendet. Bei der weiteren Auseinandersetzung um die Abschaffung des Abtreibungsverbotes sollte auch, stärker als bisher, reflektiert werden, wie wichtig es ist, die Rolle der Kirchen und ihres Umfeldes bezüglich der Definition und Durchsetzung sogenannter christlicher Werte zu erkennen und mit Entschiedenheit zurückzuweisen.