Laizismus in der Bundesrepublik Deutschland

Aus: MIZ 1/84

Die in Paris erscheinende Zeitschrift Europe et Laïcité bringt in Kürze ihre 100. Nummer heraus. Für diese Festausgabe schrieb einer der profiliertesten Atheisten der Bundesrepublik, Dr. Otto Bickel aus München, den nachstehenden Artikel.

Der Unterschied zwischen Frankreich und Deutschland in der Situation des Laïzismus hat zweifellos vor allem historische Gründe. Uns fehlt die große Revolution von 1789 und die entschiedene Trennung von Staat und Kirche nach 1870. In Deutschland hat zwar die Reformation einschneidende Spuren hinterlassen, aber das Zurückdrängen der Allmacht der katholischen Kirche wurde durch die Einführung der landesherrlichen Oberhoheit in den Kirchen der protestantischen Gebiete kompensiert. Der Grundsatz "Cuius regio, eius religio" hatte langnachwirkende Folgen. Gerade nach dem festlich begangenen Lutherjahr muß man daran erinnern, daß der Aufstand Luthers gegen die katholische Kirche auf halbem Wege stecken geblieben ist. Die Verbindung zwischen Thron und Altar war in den protestantischen Ländern Deutschlands fester als im übrigen Europa und ließ ein Staatskirchentum entstehen, das die Religion zu einer selbstverständlichen Untertanenpflicht machte.

Im 19. Jahrhundert gab es zwar auch in Deutschland überall Ansätze zu religionskritischem Denken, das sich vor allem in der frühen Arbeiterbewegung manifestierte und von der geistigen Verbindung zwischen Karl Marx und Ludwig Feuerbach ausging. Karl Marx schrieb aus Paris im Jahre 1844 an Ludwig Feuerbach: "Sie haben ... in Ihren Schriften dem Sozialismus eine philosophische Grundlage gegeben, und die Kommunisten haben diese Arbeiten auch deshalb in dieser Weise verstanden." Mit der Abschaffung der Monarchie in Deutschland im Jahre 1918 entstand dann auch eine starke laïzistische Bewegung, die zwar diesen Namen nicht führte, aber von ihrem Geist erfüllt war und vor allem von den Organisationen der Arbeiterbewegung und den Liberalen des Mittelstandes getragen wurde. Sie fand auch ihren Niederschlag in den wichtigsten Bestimmungen der Weimarer Verfassung von 1919. Die Trennung von Staat und Kirche war praktisch vollzogen.

Mit der Machtergreifung des Nationalsozialismus im Jahre 1933 wurde diese Bewegung radikal zerschlagen. Hitler verbot nicht nur die Arbeiterparteien und die Gewerkschaften, sondern alle Organisationen, die sich zu einer freien Weltanschauung und zur Kirchenfreiheit bekannten, wurden aufgelöst, ihr Vermögen beschlagnahmt, ihre Bücher verbrannt und ihre führenden Persönlichkeiten kamen in die Konzentrationslager. Die zarte Pflanze eines Laïzismus in Deutschland war tot.

Nach 1945, als das Kriegsende uns vom Nationalsozialismus befreite, waren die Großkirchen die einzigen Organisationen, die intakt geblieben waren. Sie nützten diese Position rücksichtslos aus und spielten sich als die eigentlichen Gegner des deutschen Faschismus auf, obwohl sie ihr gerüttelt Maß Schuld an der Machtergreifung Hitlers hatten. Auf jeden Fall wurden sie entsprechend von den Besatzungsmächten unterstützt. Als sich die Parteienlandschaft zum Aufbau eines demokratischen Staates zu bilden begann, schufen sie sich in der Christlich-Demokratischen Union (CDU), in Bayern in der Christlich-Sozialen Union (CSU), kirchentreue Parteien, in die auch die Protestanten einbezogen wurden, obwohl die katholische Mehrheit diese ständig an die Wand drückte. Es war eine Vorwegnahme der Okumene nach päpstlichem Geschmack. Die Kirchen schickten ihre Leute aber auch in die Sozialdemokratische Partei, die später unter Verleugnung ihrer geistigen und politischen Herkunft im Godesberger Programm eine Partnerschaft mit den Kirchen proklamierte.

Der sich anbahnende "Kalte Krieg" zwischen Ost und West ließ auf allen Gebieten des geistigen und kulturellen Lebens in Deutschland einen leidenschaftlichen Anti-Kommunismus aufblühen. Sein erstes Ergebnis war die Spaltung Deutschlands in zwei Staaten, in die westliche Bundesrepublik Deutschland und die östliche, zum sowjetischen Einflußgebiet gehörige Deutsche Demokratische Republik. Das Grundgesetz der BRD proklamierte zwar in seinen wichtigsten Artikeln die bürgerlichen Freiheiten, wie sie auch in anderen westlichen Verfassungen enthalten sind. So lautet der Artikel 4 GG: "Die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses sind unverletzlich. Die ungestörte Religionsausübung wird gewährleistet." Im übrigen wird in Artikel 140 des Grundgesetzes hinsichtlich der Rechte der Kirchen die Geltung der Artikel 136 bis 139 und 141 der Weimarer Verfassung von 1919 ausdrücklich bestätigt, deren wichtigste Bestimmung lautet: "Es besteht keine Staatskirche". Sonst sind aber die Bestimmungen dieser Verfassungsartikel schillernd und ziemlich dehnbar und garantieren keine saubere Trennung von Staat und Kirche. In der Verfassung der DDR wird diese Trennung jedoch ausdrücklich postuliert.

So ist es nicht zu verwundern, daß in der heute in der BRD praktizierten Kulturpolitik eine Reihe von Zuständen bestehen, die den laïzistischen Grundsätzen ins Gesicht schlagen. Der skandalöseste Gegenstand ist darunter die Handhabung der Kirchensteuer. Die Kirchen sind berechtigt, von ihren Mitgliedern eine Steuer zu erheben, die in einem prozentualen Verhältnis zur staatlichen Einkommenssteuer steht. Der Staat meldet nun den Kirchensteuerämtern nicht nur die Höhe der Einkommenssteuer der einzelnen Steuerpflichtigen, sondern er zieht von den Nicht-Selbständigen, die der Lohnsteuer aufgrund einer Lohnsteuerkarte unterliegen, diese Kirchenlohnsteuer ein und leitet sie an die Kirchensteuerämter weiter. Da die Lohnsteuer von den Unternehmen, in denen die Lohnempfänger beschäftigt sind, einbehalten werden muß, sind diese gezwungen, auch die Kirchensteuer vom Arbeitslohn abzuziehen und an die staatlichen Finanzämter abzuführen. Der Unternehmer wird also, auch wenn er selbst keiner Kirche angehört, gezwungen, den Steuerbüttel für die Kirchen zu spielen. Diese Regelung zwingt dazu, auf der Lohnsteuerkarte das religiöse Bekenntnis einzutragen, ein eklatanter Verstoß gegen Artikel 136 (3) der Weimarer Verfassung, in dem es heißt: "Niemand ist verpflichtet, seine religiöse Überzeugung zu offenbaren". Dadurch scheuen sich viele Arbeitnehmer, aus der Kirche auszutreten, weil sie befürchten, daß die dadurch notwendig werdende Änderung auf der Lohnsteuerkarte ihre Stellung im Betrieb gefährden könnte. Besonders pikant wird es, wenn der Unternehmer oder der Betrieb die Steuer für seine Beschäftigten selbst übernimmt, was besonders bei vorübergehend beschäftigten Aushilfen üblich ist. In diesem Fall wird nämlich die vom Betrieb überwiesene Kirchenlohnsteuer vom Finanzamt automatisch im Verhältnis des Anteils der Katholiken und Protestanten in dem betreffenden Land aufgeteilt und an die Kirchen überwiesen.

Neben diesem staatlichen Einzug der Kirchensteuer gibt es große allgemeine Staatszuschüsse an die Kirchen, die nur aus den Finanzplänen der Länder ersichtlich sind. Sie werden zum Teil als Abfindung für die Enteignung von Kirchengütern in der Säkularisation zu Beginn des 19. Jahrhunderts gewährt, zum anderen Teil als Entschädigung für Unterrichtsleistungen von Kirchenpersonal in den staatlichen Schulen. Dabei handelt es sich vorwiegend um den Religionsunterricht an den öffentlichen Schulen. Laut Artikel 7 (2) des Grundgesetzes ist der Religionsunterricht als ordentliches Lehrfach anerkannt. Die Erziehungsberechtigten haben zwar das Recht, über die Teilnahme des Kindes am Religionsunterricht zu bestimmen, aber in verschiedenen Länderverfassungen wird die Teilnahme an einem die Konfessionslosen demütigenden Ersatzunterricht - in Bayern Ethikunterricht - zwingend vorgeschrieben. Kirchenfreie Eltern sehen in dieser Bestimmung eine verfassungswidrige Diskriminierung, abgesehen davon, daß Glaubensunterweisung durch die Kirchen an staatlichen Schulen nach laïzistischer Auffassung keinen Platz haben sollte.

Eine weitere Einflußnahme der Kirchen in das öffentliche Leben der BRD wird durch das sogenannte Subsidiaritätsprinzip ermöglicht. Es bedeutet, daß bei Wohlfahrtseinrichtungen - Kindergärten, Krankenhäusern, Altenheimen - , deren Neuerrichtung der Staat oder die Gemeinden vorsehen, den Kirchen die Vorhand zur Durchführung gelassen wird, wenn sie ein solches Heim errichten wollen. In diesem Fall stellt der Staat die im Etat verplanten Mittel den Kirchen bzw. deren karitativen Einrichtungen bei ganz geringer Selbstbeteiligung als verlorene Zuschüsse zur Verfügung.

Auch in den Medien - Rundfunk, Fernsehen, Presse - wird den Kirchen ein unverhältnismäßig großer Raum für Gottesdienste und kirchliche Nachrichten eingeräumt. Darüber hinaus wird aber auch auf allen anderen Gebieten, sei es Politik, Bildung oder Unterhaltung, Wissenschaft oder Kunst außerordentliche Rücksicht auf allgemeine kirchliche Belange oder zumindest auf den Glauben an den lieben Gott genommen, so daß freidenkende Bürger von einer ständigen Schleichwerbung für die Kirchen sprechen. In der gleichen Richtung liegt die Ausübung der Wehrmachtsseelsorge durch beamtete Wehrmachtsgeistliche und die institutionalisierte kirchliche Propaganda in allen sozialen Einrichtungen, vor allem in Krankenhäusern und Altenheimen.

Zusammenfassend läßt sich sagen, daß der Geist der Säkularisation und des Laïzismus, der Geist der Aufklärung im weitesten Sinne in der BRD häufig in den Hintergrund gedrängt wird und an vielen Stellen nur ein Schattendasein führen kann. Die freigeistigen Organisationen sind nicht stark genug, um sich in der Offentlichkeit durchzusetzen; sie haben vor allem kein politisches Gewicht. Nachdem auch die vorwiegend in der SPD und in den Gewerkschaften organisierte Arbeiterbewegung sich mehrheitlich vom Antiklerikalismus losgesagt hat, ist im politischen Raum nur bei den Demokraten ein Rest von bekennendem Liberalismus festzustellen. Seit die Freie Demokratische Partei (FDP) im Herbst 1982 die sozial-liberale Koalition verlassen hat und eine Koalition mit den christlichen Parteien eingegangen ist, wurde deren liberales Engagement geschwächt, umsomehr als diejenigen Parteimitglieder und Abgeordneten, die der Idee der "Trennung von Staat und Kirche" verpflichtet sind, größtenteils die FDP verlassen haben.

Unser Glückwunsch an die große laïzistische Bewegung in Frankreich beinhaltet deshalb den heißen Wunsch, daß sie ihre Ausstrahlung auf das übrige Europa und damit auch auf die BRD verstärken möge. Wir hoffen, daß sie in Zukunft auch im Europäischen Parlament sich bemerkbar machen und zu Wort melden wird, damit Europe et Laïcité gegen Ende unseres zweiten Jahrtausends politische Wirklichkeit und ein Fanal für die übrige Welt werde.