Buchbesprechung: Denn sie wissen nicht, was sie glauben
Franz Buggle: Denn sie wissen nicht, was sie glauben. Oder warum man redlicherweise nicht mehr Christ sein kann.
Aus: MIZ 4/92
Rowohlt Verlag, Reinbek 1992, 480 Seiten, DM 48,-
Aus der mittlerweile doch recht beachtlichen Fülle literarischer Streitschriften gegen Religion und Kirche, die der Buchmarkt alljährlich hervortreibt, exponiert sich in diesem Jahr besonders eine Publikation aus dem Rowohlt Verlag, die durch drei bemerkenswerte Umstände gekennzeichnet ist.
Zum einen ist der Verfasser, Franz Buggle, bislang keinesfalls als ein einschlägiger Kritiker aufgefallen; er muß als Neuling auf diesem an entsprechenden Autoren doch recht überschaubaren Gebiet gelten. Zum anderen – allemal noch erstaunlicher – handelt es sich bei diesem Novizen um einen etablierten Angehörigen des gängigen Wissenschaftsbetriebs, gar um einen leibhaftigen Professor und Inhaber eines Lehrstuhls für Klinische und Entwicklungspsychologie an der Universität Freiburg, was allein schon deshalb besonderer Erwähnung bedarf, weil dezidiert religionskritische Schriften hiesiger Hochschullehrer, Theologen und Ex-Theologen ausgenommen, wahrlich Seltenheitswert besitzen und darnit beredt Auskunft über den Mangel an "Metaphysischer Zivilcourage" (G. Anders) der universitären Intelligentia heutzutage geben. (Ein Zustand, den der Autor in seinem Buch – soviel sei bereits verraten – ebenfalls diagnostiziert und an ausgewählten Beispielen unerbittlich präzise beleuchtet.)
Und last but not least hat seine Veröffentlichung in der Hauptsache das Fundament der größten vorfindlichen Buchreligion selbst, die Bibel nämlich, zum Untersuchungsgegenstand, geht damit also an die Wurzel der christlichen Undinge. Auch das ist bemerkenswert in Zeiten, in denen alle möglichen Heine- und Drewermänner eine Kirchenkritik in Szene setzen, die die Ursache von der Wirkung trennt und im Tadel der Institution die Prämissen des christlichen Glaubens vergessen machen will. Genau diese prekären Grundlagen seziert Franz Buggle nun in seinem Buch, kenntnis- sowie materialreich, bibelzitatgesättigt und argumentativ blitzsauber.
Wer allerdings eine Bibelkritik erwartet, in deren Zentrum vor allem eine genüßliche Auflistung aller Unklarheiten, Mehrdeutigkeiten, Widersprüche, Falschaussagen etc. steht, von denen die "Heilige Schrift" der Christen wahrlich strotzt, kommt nicht ganz auf seine Kosten. Der Freiburger Psychologe nimmt dieses Machwerk unter einem anderen Blickwinkel auf den Prüfstand; er untersucht die Verhaltensnormen, die ethischen Standards, die Leitbilder, die diese mit göttlichem Geltungsanspruch auftretende Quellenschrift transportiert. Freigeschaufelt werden jene Stellen im Alten und Neuen Testament, die den Genozid bejahen, abscheulichsten Strafphantasien huldigen, zum Schlachtfest an Ketzern, Andersgläubigen, sexuell Abweichenden, Geisteskranken, ja sogar an unbotmäßigen Söhnen und Töchtern aufrufen, und damit hinreichend verdeutlicht, daß die Blutspur, die das Christentum durch die Geschichte gezogen hat, keine Kette von institutionellen Betriebsunfällen darstellt, sondern kausal genau aus der Moral hervorgeht, welche die Bibel in die Welt setzt.
Franz Buggles Streitschrift räumt auch mit der beliebten Unterscheidung zwischen dem Alten und dem Neuen Testament auf, die fortschrittliche Theologen so feinsinnig zu machen pflegen, wenn sie argumentativ in die Bredouille kommen. Abgesehen davon, daß der Verweis auf das scheinbar ethisch höherwertige und somit eigentlich maßgebende Neue Testament allein schon deshalb unlauter ist, weil es den letztlich verantwortlichen Urheber beider Testamente aufzuspalten trachtet, wiewohl gleichzeitig verkündet wird, daß er derselbe unwandelbare, absolut vollkommene Gott sei, kann Buggle zeigen, daß das Ausmaß der archaisch-sadistischen Grausamkeit im Neuen Testament keinesfalls geringer ist und teilweise, etwa in der Lehre von den ewigen Höllenstrafen, das Alte Testament diesbezüglich noch übertrifft. Buggles Buch bestätigt so – welche Ironie! – die Richtigkeit gerade jener offiziellen Ansicht, obgleich in der theologischen Praxis notgedrungen faktisch geleugnet, von der Unwandelbarkeit des Christengottes, der tatsächlich der immergleiche Blutsäufer ist und nur durch Opfer, blutige zumal, versöhnt werden kann. Ob die Fans anderer Kulte und wer auch immer von seinem Schwert zuhauf gefressen werden oder sein eigener Sohn am Kreuz den Geist aufgibt – stets muß der Saft des Lebens fließen, um ihn – wenigstens vorläufig – zu besänftigen.
Aber damit nicht genug. Frauendiskriminierung, Verfolgung von Geisteskranken, Häretikern, Atheisten, Juden, Sklavenhaltung, Teufels- und Dämonenglauben werden gerade im Neuen Testament massenhaft propagiert, wie Buggle detailliert nachweist, ohne indessen zu vergessen, auch ethisch positive Züge in diesem Teil der "Heiligen Schrift" entsprechend zu würdigen. Sein Fazit fällt dennoch eindeutig aus: "Die Bibel ... ist in zentralen Teilen ein gewalttätig-inhumanes Buch, als Grundlage einer heute verantwortbaren Ethik ungeeignet." Mit diesem zwingenden Schluß endet das Buch des Freiburger Professors noch lange nicht. Erreicht ist nunmehr knapp die Hälfte seines fast 500 Seiten – im doppelten Sinne des Wortes – starken Werkes. In zwei weiteren Großkapiteln wird zum einen die Apologetik eines Hans Küng einer vernichtenden Kritik unterzogen, zum anderen "die religiöse Szene im deutschen Raum" ins grelle Licht der Öffentlichkeit gezerrt. Buggle demontiert den gänzlich zu Unrecht als progressiv verschrienen Theologen (ohnehin eine contradictio in adiecto) nach allen Regeln der Kunst, er sticht die klerikalen Sprechblasen dieses metaphysischen Troubadours so gekonnt auf, daß dieser, derart zur Salb-Ader gelassen, endlich als das erscheint, was er auch ist: ein personifiziertes sacrificium intellectus, das ständig in den eigenen Wortstrudeln absäuft.
Die daran anschließende breit angelegte Darstellung des Umgangs deutscher Intellektueller und Hochschullehrer mit Religion und Kirche zeigt an ausgewählten Beispielen (u.a. an C. F. von Weizäcker, Hoimar von Ditfurth), wie auch ansonsten relativ kritische Geister, ganz zu schweigen von den bekennenden Christen à la Jens, Zahrnt, Dirks, Sölle etc. in Sachen Gott und Bibel auf morschen Denkkrücken daherkommen, wie eingetrocknet mittlerweile im Bereich der Humanwissenschaften jegliches Aufklärungspotential ist und welche Gründe und Hintergründe diese weitverbreitete schiere Regression ins Mittelalter hat.
Buggle, auch das soll nicht verschwiegen werden, schreibt wohltuend konkret, angenehm unaufgeregt und also sehr sachlich, er argumentiert glasklar, bezieht deutlich Stellung, kurz: sein Buch verzichtet – sehr zum Nutzen des Lesers – gänzlich auf jenes positivistisch beschränkte Gebaren, das von den amtierenden Mitgliedern der "Scientific Community" so gerne zeitgeistmäßig mit Wissenschaftlichkeit schlechthin verwechselt wird. Über eine gewisse Neigung zur Konstruktion von Schachtelsätzen, die er überdies mit dem Rezensenten teilt, kann großzügig hinweggesehen werden, zumal ihr keineswegs so exzessiv nachgegeben wird, daß der Gebrauchswert der wirklich imponierenden Streitschrift beeinträchtigt ist. Stilistisch ganz dünnhäutigen Lesern könnte allerdings eine sprachliche Marotte nahegehen, die der Freiburger Professor ausufernd pflegt: Wo immer sich die Gelegenheit bietet, adjektivische Attribute per Bindestrich zu verklammern, wird sie gerne wahrgenommen. Vor Substantiven befinden sich also bevorzugt solche Wortungetüme wie "einseitig-defizitär", "unvollständig-exemplarisch", "grausam-absurd" und dergleichen mehr. Einem Sachbuchautoren indessen können lexikalische Abwege, wenn sie die Verständlichkeit seines Textes nicht minimieren, generös verziehen werden.
Also: Wer schon immer eine profunde literarische Auseinandersetzung mit der herrschenden Desinformation über die Bibel gesucht hat, ist mit Buggles Erstlingswerk blendend bedient. Und rund 10 Pfennig pro Seite ist eine pralle Kritik des Christentums allemal wert.
Jürgen Hettel