Grundrecht auf freie Meinungsäußerung – aber doch nicht bei der Kirche!

Rolf Heinrich

Aus: MIZ 3/92

Wie ist das Verhältnis zwischen Gewerkschaften und Kirchen, wenn es um die besonderen Arbeitsbedingungen in den sogannten "Tendenzbetrieben" geht? Diese Frage richtete die MIZ-Redaktion an die ÖTV-Hauptverwaltung in Stuttgart. Die ÖTV stellte uns daraufhin Dokumentationsmaterial zur Verfügung, das wir für diesen Artikel bearbeiteten.

Anfang der achtziger Jahre kündigte das St. Elisabeth-Krankenhaus in Essen zwei Assistenzärzten, weil sie sich in einem Leserbrief in der Illustrierten Stern, der von weiteren 50 Personen unterzeichnet war, für die bestehende Gesetzeslage des § 218 StGB eingesetzt hatten und öffentlich vorgetragene Vorwürfe aus ihrem Standesbereich zurückwiesen, worin die bestehende Rechtslage zum Schwangerschaftsabbruch mit den Massenmorden der Nazis in Auschwitz verglichen wurde. Nachdem die Kündigung öffentliches Interesse erregt hatte, verteidigten die beiden Ärzte im Dritten Fernsehprogramm des Westdeutschen Rundfunks nochmals ihre Unterschrift unter den Leserbrief. Dies war für den Arbeitgeber Anlaß zu einer weiteren Kündigung. Mit dem Rechtsschutz der Gewerkschaft ÖTV griffen die beiden Ärzte die ausgesprochenen Kündigungen an. Das Bundesarbeitsgericht (Urteil vom 21.10.82 2 AZR 628/80) erklärte die Kündigungen für sozialwidrig.

In einem zweiten Rechtsstreit, der nicht von der Gewerkschaft ÖTV betreut worden ist, ging es um die Kündigung eines Buchhalters in einem katholischen Jugendheim. Anlaß der Kündigung war sein Kirchenaustritt. Auch hier entschied das Bundesarbeitsgericht (Urteil vom 23.3.84 7 AZR 249/81) zu Gunsten des Arbeitnehmers, weil die Kündigung nicht sozial zu rechtfertigen sei.

Gegen beide Entscheidungen legten die unterlegenen Kirchenparteien Verfassungsbeschwerde ein. Das Bundesverfassungsgericht hob die Entscheidungen des Bundesarbeitsgerichts auf, weil dieses bei seiner Abwägung den Verstoß der im Kirchendienst tätigen Arbeitnehmer gegen die obliegenden Loyalitätspflichten nicht genug beachtet hätte. Im übrigen hat das Bundesverfassungsgericht das Verfahren zur Entscheidung an das Bundesarbeitsgericht zurückverwiesen. In der "Ausführungsentscheidung" stellt das Bundesarbeitsgericht kurz und knapp fest, daß auf der Grundlage der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts die ausgesprochene Kündigung des Arbeitsverhältnisses durch den kirchlichen Arbeitgeber rechtswirksam war, weil durch den Leserbrief die Loyalitätspflichten gegenüber dem kirchlichen Arbeitgeber verletzt wurden. Die ausgesprochene Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 4. Juni 1985 (2 BvR 1703/83) sagt folgendes :

1. Die Kirchen können sich bei der Regelung ihrer Personalangelegenheiten auch der Privatautonomie bedienen, um ein Arbeitsverhältnis zu begründen und zu regeln. Auf dieses Arbeitsverhältnis findet dann das staatliche Arbeitsrecht Anwendung. Es bleibt jedoch das kirchliche Selbstbestimmungsrecht wesentlich. Dieses eröffnet den Kirchen die Möglichkeit, die spezifischen Obliegenheiten kirchlicher Arbeitnehmer verbindlich zu machen.

2. Welche kirchlichen Grundverpflichtungen als Gegenstand des Arbeitsverhältnisses bedeutsam sein können, richtet sich nach den von der verfaßten Kirche anerkannten Maßstäben. Unerheblich ist die Auffassung einer kirchlichen Einrichtung oder eine Meinungsströmung unter den Kirchenmitgliedern.

3. Es ist Sache der verfaßten Kirche zu sagen, was "die Glaubwürdigkeit der Kirche und ihre Verkündigung erfordert", was "spezifisch kirchliche Aufgaben" sind, was "Nähe" zu ihnen bedeutet, welches die "wesentlichen Grundsätze der Glaubens- und Sittenlehre" sind und was als gegebenenfalls schwerer Verstoß gegen diese anzusehen ist. Es ist Sache der Kirche gegebenenfalls abgestufte Loyalitätspflichten festzulegen. Keinesfalls kann dies durch die staatlichen Arbeitsgerichte geschehen.

4. Die Kirchen können als Grundlage ihrer Arbeitsverträge das Leitbild einer christlichen Dienstgemeinschaft in den Vordergrund stellen. Sie können von ihren Arbeitnehmern verlangen, daß sie die tragenden Grundsätze der kirchlichen Glaubens- und Sittenlehre beachten und daß sie nicht gegen fundamentale Verpflichtungen verstoßen, die sich aus der Zugehörigkeit zur Kirche ergeben und die jedem Kirchenmitglied obliegen.

5. Art. 137 Abs. 3 S. 1 Weimarer Reichsverfassung (WRV) gewährleistet mit Rücksicht auf das zwingende Erfordernis des friedlichen Zusammenlebens von Staat und Kirche sowohl das selbständige Ordnen und Verwalten der eigenen Angelegenheiten durch die Kirchen als auch den staatlichen Schutz anderer, für das Gemeinwesen bedeutsamer Rechtsgüter.

6. Die von kirchlicher Seite den Arbeitnehmern arbeitsvertraglich aufgebürdeten Loyalitätspflichten dürfen nicht im Widerspruch zu Grundprinzipien der Rechtsordnung (allgemeines Willkürverbot, gute Sitten nach § 138 Abs. 1 BGB, ordre public nach Art. 30 EGBGB) stehen.

Das veranlaßte die ÖTV zum nachfolgenden Kommentar:

1. In beiden Fällen wird ein außerdienstliches Verhalten (öffentliche Meinungsäußerung, Kirchenaustritt) vom Bundesverfassungsgericht als Arbeitsvertragsbruch angesehen, obwohl für den unbefangenen Betrachter ein Bezug zum Arbeitsverhältnis nicht zu erkennen ist. Durch die öffentliche Meinungsäußerung arbeitet der Arzt im Krankenhaus weder besser noch schlechter und der stille Kirchenaustritt des Buchhalters vermag ebenfalls nicht seine buchhalterische Tätigkeit zu beeinflussen.

2. In seiner öffentlichen Meinungsäußerung im Leserbrief und im Fernsehinterview hat sich der gekündigte Arzt nicht gegen seinen Arbeitgeber im besonderen, oder gegen die Kirche im allgemeinen gewandt, sondern ist der veröffentlichten Meinung konservativer Standesfunktionäre entgegengetreten.

3. Die Arbeitnehmer sind mit ihrer Unterschrift unter den Leserbrief ersichtlich als Privatpersonen aufgetreten und haben keinen Bezug zu ihrem Arbeitgeber hergestellt.

4. Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts schränkt die Meinungsäußerungsfreiheit kirchlicher Arbeitnehmer ein. Die Entscheidung zwingt den kirchlichen Arbeitnehmer, entweder in der Öffentlichkeit zu schweigen oder kirchliche Auffassungen zu vertreten, will er nicht seinen Arbeitsplatz verlieren.

5. Es ist bedauerlich, daß ein staatliches Gericht einen Bürger verurteilt, der die Gesetze dieser Republik in der Offentlichkeit verteidigt.

6. Nachdem das Bundesarbeitsgericht seine Rechtsprechung aus dem "Anstreicher-Urteil" des Jahres 1956 aufgegeben hat (die Kündigung eines in einem katholischen Krankenhaus beschäftigten Malers wurde für rechtens erklärt, weil dieser, nachdem ihn seine Frau verlassen hatte, in zweiter weltlicher Ehe seine Freundin heiratete, die von ihm ein Kind erwartete), fällt das Bundesverfassungsgericht in diese Denkkategorien des Jahres 1956 zurück.

7. Es ist auffallend, daß allein das Bundesverfassungsgericht immer wieder den Kirchen Recht gibt, während demgegenüber Arbeitnehmerrechte und Arbeitnehmerinteressen gänzlich auf der Strecke bleiben.

8. Es ist auffallend, daß die Kirchen mit Hilfe des Bundesverfassungsgerichts erst in jüngster Zeit eine Personalpolitik der Einschränkung der Rechte ihrer Arbeitnehmer betreiben, da der Arbeitsmarkt ständig mehr als 2 Millionen Arbeitslose anbietet.

9. Bezeichnend ist, daß der Ministerpräsident des Landes Bayern in seiner Stellungnahme allein die Kirchenseite unterstützt und Arbeitnehmerinteressen nicht sieht.

10. Das Bundesverfassungsgericht erlaubt den Kirchen, ihre Arbeitnehmer in den Arbeitsverträgen auf Glaubensgrundsätze zu verpflichten.

11. Das Bundesverfassungsgericht sieht als eine Schranke für kirchliches Arbeitgeberverhalten das allgemeine Willkürverbot an. Weiter führt es aus, die Katholische Kirche sehe in der Tötung ungeborenen Lebens ein schweres Verbrechen, das nach kanonischem Recht mit der Ausstoßung aus der Kirchengemeinschaft geahndet werden könne.

Ist es aber nicht willkürlich, wenn ein kirchlicher Arbeitnehmer wegen Verteidigung des § 218 StGB seinen Arbeitsplatz durch Kündigung verliert, während er als Kirchenmitglied unbehelligt bleibt? Mit der Verpflichtung auf Glaubensgrundsätze werden zu Lasten der kirchlichen Arbeitnehmer somit im Rahmen arbeitsvertraglicher Verpflichtungen Einschränkungsinstrumente geschaffen, während das steuerzahlende Kirchenmitglied Meinungsäußerungsfreiheit genießt.

Die Gewerkschaft ÖTV hält die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts für eine erhebliche Einschränkung der Grundrechte der kirchlichen Arbeitnehmer. Es ist unerträglich, wenn das Bekenntnis zu staatlichem Recht und diesem zugrundeliegenden Wertentscheidungen zu einer Gefährdung der beruflichen Existenz führen.

Dr. Maximilian Rommelfanger hatte mit Unterstützung der ÖTV den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte angerufen. Die Klage wurde am 6. September 1989 abgewiesen. Nachstehend auszugsweise die Begründung der Kommission:

Der Beschwerdeführer (BF) behauptet eine Verletzung seines Rechts der freien Meinungsäußerung, wie es Art. 10 der Konvention (zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten) garantiert.

Der BF macht den Staat für den Eingriff in sein Recht der freien Meinungsäußerung verantwortlich. Denn das Bundesverfassungsgericht habe in der Folge seiner, des BF's, Entlassung durch eine katholische Institution wegen Außerung einer besonderen Meinung eine unvernünftig weite Interpretation der kirchlichen Autonomie abgegeben und so versäumt, ihn zu schützen. Die angewendeten verfassungsrechtlichen Normen stellten keine ausreichend genaue und vorhersehbare gesetzliche Grundlage für eine Einschränkung seines Rechts der freien Meinungsäußerung zur Verfügung, eine Einschränkung, die überdies unverhältnismäßig und nicht notwendig sei in einer demokratischen Gesellschaft zum Schutze irgendeiner der Zwecke, die in Art. 10 Abs. 2 anerkannt sind.

Die Regierung bestreitet, daß es irgendeinen direkten Eingriff in des BF's freie Meinungsäußerung durch den Staat gegeben habe. Die Einschränkung dieser Freiheit resultiere aus dem Beschäftigungsvertrag des BF's mit einer kirchlichen Institution, durch welchen er auf die freie Meinungsäußerung in dem Maße, wie sie seiner Loyalitätspflicht entgegenstünde, verzichtet habe. Der BF könne grundsätzlich seine Ansichten in Bezug auf die Abtreibung frei äußern, aber er habe kein Recht, sich ebenso zu äußern, während er in Diensten eines katholischen Hospitals stehe, wo er gewisse Pflichten und Verantwortlichkeiten übernommen habe.

Gemäß Aussage des Regierungsvertreters war der Staat nicht verpflichtet, ihn gegenüber seinem Arbeitgeber anders zu schützen, als durch die allgemeine Gewährleistung, daß der Arbeitgeber keine unvernünftigen Anforderungen an ihn stellen dürfe. In dieser Hinsicht war es angemessen für den Staat, eine einschränkende Art der Betrachtung sich zu eigen zu machen mit Rücksicht auf die Interessen der Kirche, ihre inneren Angelegenheiten selbst zu regeln, wie dies nicht nur im deutschen Grundgesetz, sondern auch in Artikel 9 der Konvention niedergelegt ist. Die gesetzliche Grundlage für die Einschränkung des Rechts auf freie Meinungsäußerung beim BF war ausreichend konkret und vorhersehbar. Die Einschränkung war auch verhältnismäßig insofern, als sie besonderen Bezug hatte zu des BF's besonderen Pflichten als Arzt eines katholischen Hospitals sowie zu des Staates weitem Anerkennungsspielraum.

(...) Die Kommission hat geprüft, ob im vorliegenden Fall für den Staat eine ähnliche Verpflichtung bestand, die Rechte des BF's auf freie Meinungsäußerung gegen die Maßnahme der Entlassung durch seine Arbeitgeberin zu schützen. Der normale Arbeitsgerichtsprozeß stand ihm zur Verfügung, und die zuständigen Kammern waren aufgefordert, die Interessen des BF's abzuwägen gegen diejenigen seiner Arbeitgeberin. Tatsächlich wurde am Ende besonderes Gewicht jenem Standpunkt der Kirche beigemessen, der die Loyalitätspflicht ihrer Angestellten betrifft. Gemäß Bundesverfassungsgericht war dies notwendig, um das verfassungsmäßige Recht der Kirche zu schützen, das ihr die Ordnung ihrer inneren Angelegenheiten selbst überläßt. Dennoch führte das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) aus, daß es Grenzen gibt für das Recht der Kirche, ihren Angestellten ihre Ansichten aufzudrängen. Insbesondere wären dazu die staatlichen Gerichte zuständig, um zu gewährleisten, daß keine unvernünftigen Loyalitätsforderungen erhoben würden. Die Forderung, von Meinungsäußerungen über die Abtreibung abzusehen, wo sie den Ansichten der Kirche widersprächen, wurde nicht als eine unvernünftige Forderung bewertet, und zwar wegen der zentralen Bedeutung, die diese Thematik für die Kirche besäße. Im Falle eines an einem katholischen Hospital beschäftigten Arztes war auch zu berücksichtigen, daß die Kirche ihre Wohltätigkeitsarbeit als eine ihrer wesentlichen Aufgaben betrachtet.

Die Kommission zeigt sich befriedigt, daß die deutsche Rechtsprechung in der Auslegung des BVerfG der Notwendigkeit Rechnung trägt, das Recht eines Angestellten auf freie Meinungsäußerung gegen unvernünftige Anforderungen seitens seines Arbeitgebers zu schützen, sogar dann, wenn diese aus einem gültigen Arbeitsvertrag hervorgehen. Wenn wie im vorliegenden Fall der Arbeitgeber eine Organisation ist, die auf bestimmten Überzeugungen und Werturteilen basiert, die sie als wesentlich für die Durchführung ihrer Aufgaben in der Gesellschaft betrachtet, liegt es durchaus auf der Linie der Forderungen der Konvention, auch der Freiheit der Meinungsäußerung des Arbeitgebers einen angemessenen Spielraum zu gewähren. Ein Arbeitgeber solcher Art wäre nicht in der Lage, diese Freiheit wirksam auszuüben, würde er nicht seinen Angestellten gewisse Loyalitätspflichten auferlegen. In Bezug auf Arbeitgeber wie den katholischen Verband, der den BF in seinem Hospital beschäftigte, garantiert das Gesetz jedenfalls, daß eine vernünftige Relation besteht zwischen den Maßnahmen einerseits, die die Freiheit der Meinungsäßerung und die Bedingungen des Beschäftigungsverhältnisses bestimmen, und der Bedeutung der Zielvorstellungen des Arbeitgebers andererseits. Solcherart beschützt es einen Angestellten gegen Nötigung in Sachen seiner freien Meinungsäußerung dort, wo die Substanz seines Rechtes auf Freiheit direkt bedroht wäre. Die Kommission befindet, daß Art. 10 der Konvention in Fällen wie in diesem dem Staat nicht die positive Verpflichtung auferlege, Schutz über den erwähnten Standard hinaus zu gewähren.

Daraus folgt, daß hier kein staatlicher Eingriff in das Recht des BF's auf freie Meinungsäußerung, wie es Art. 10 Abs. 1 der Konvention garantiert, stattgefunden hat noch auch eine Unterlassung positiver Verpflichtung, die aus den Bedingungen des Art. 10 resultierten. Die Klage des Beschwerdeführers muß daher zurückgewiesen werden, weil sie gemäß Art. 27 Abs. 2 der Konvention offenbar unzureichend begründet ist. Aus diesen Gründen erklärt die Kommission die Klage(einreichung) als unzulässig.