(615) Große Beachtung fanden die wiederholten päpstlichen Lehrschreiben zu Fragen der Sexualität in
den USA und in der Dritten Welt, jedoch kaum in der Bundesrepublik, wo sich laut Umfragen 80% der katholischen Ehepaare nicht
an die kirchliche Morallehre halten. Der Papst hatte darin zwar zunächst die Verwendung chemischer Verhütungsmittel abgelehnt
und stattdessen die "natürliche" Methode empfohlen, warnte aber auch vor einem "Mißbrauch" der Knaus-Ogino-Methode zu dem
Zweck, keine "oder nur wenige" (!) Kinder zu bekommen. Theologen in der päpstlichen Zentrale weisen darauf hin, "daß es in der
dogmatischen Konzilskonstitution heißt, daß wiederholte Äußerungen des Papstes" als Grund für die Anwendung der
Unfehlbarkeitslehre gegolten haben. Der Fastenbrief Kardinal Höffners mit polemischen Abwertungen nichtehelicher Verbindungen
ist damit in Zusammenhang zu sehen, ebenso die Entlassung des Sekretärs des Päpstlichen Rates für die Familie, Bischof Huneeus,
der den päpstlichen Standpunkt zur Geburtenkontrolle nach Angaben lateinamerikanischer Kreise im Vatikan nicht standfest genug
vertreten hat. (Frankfurter Allgemeine Zeitung, 29.8.1984 und 11.2.1985, Süddeutsche Zeitung, 7. und 10.9. und 15.10.1984,
Rheinischer Merkur, 9.2.1985.)
Der Nachdruck auf diesen fast dogmengleichen Kirchengeboten sollte all jenen Katholiken zu denken geben, die den
angestaubten vatikanischen Standpunkt erhaben belächeln zu können meinen. Gerade solche Aussagen gehören - ebenso wie die in
jüngster Zeit wiederholt betonte Behauptung der Jungfrauengeburt (vgl. Süddeutsche Zeitung vom 27.12.1984) - zum spezifisch
Katholischen, wenn nicht gar Christlichen. (Die Lehre von der Geburt Jesu aus einer Jungfrau ist auch für die protestantischen
Kirchen "theoretisch" noch ein verbindlicher Glaubenssatz; vgl. hierzu auch bekannte Kirchenlieddichtungen Luthers.)
Demgegenüber ist praktisches Handeln im Sinne der "Nächstenliebe" außerhalb der Kirchen mindestens ebenso gut möglich wie
innerhalb ihrer und verdient daher nicht das Prädikat "christlich".