Die Grundordnung stärken: Was hat Gott damit zu tun?
Kommentar von Andreas Dietz, 14.05.2024
In seinem Kommentar in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung „Die Grundordnung stärken: Zeichen in gottlosen Zeiten“ vom 09.05.2024 verteidigt Reinhard Müller aus Anlass brutaler Angriffe auf Politiker den Gottesbezug im Grundgesetz: „Wer Menschen aufgrund ihres Bekenntnisses oder ihrer Parteizugehörigkeit zusammenschlägt, handelt ebenso gottlos wie außerhalb unserer Grundordnung. (…) Durch die Erwähnung Gottes wird klar, dass die freiheitliche Ordnung in die Zukunft blickt und auch eine Zukunft hat.“
Dem ist in einer Sache zuzustimmen: Wer Menschen aufgrund ihres Bekenntnisses oder ihrer Parteizugehörigkeit zusammenschlägt, handelt außerhalb unserer Grundordnung. Dieses Verhalten allerdings mit Gottlosigkeit in einen Zusammenhang zu bringen, ist falsch. Sicherlich ist brutale Gewalt äußerst unchristlich, wenn man das christliche Ideal der Nächstenliebe zum Maßstab nimmt. Brutale Gewalt ist aber auch äußerst unmenschlich, wenn man die ethischen Ideale eines säkularen Humanismus zum Maßstab nimmt. Menschlichkeit ist kein christliches Monopol.
Atheismus und Agnostizismus sind zunächst nur philosophische Standpunkte zur Möglichkeit der Existenz von Göttern, die für sich allein noch nichts über moralische Orientierung und moralisches Handeln aussagen. Man kann auch als Theist moralisch falsch handeln. Das beweisen die zahlreichen Fälle von sexuellem Missbrauch durch Amtsträger und Mitarbeiter der Kirchen. Und das beweisen nicht zuletzt auch die Terroranschläge der jüngeren Vergangenheit, deren Protagonisten keinen Zweifel an der Größe und Unfehlbarkeit ihres Gottes haben, wenn sie an ihr blutiges Werk gehen. Gottesglauben allein ist kein Garant für Rechtschaffenheit und Menschlichkeit.
Was Menschen fehlt, die Andersdenkende zusammenschlagen, ist nicht der Glaube an Gott, sondern eine reflektierte moralische Orientierung. Richtig ist die Feststellung Reinhard Müllers, dass das Gewaltmonopol beim demokratischen Rechtsstaat liegt. Dass dieser für seine Legitimität einen religiösen Bezug in der Verfassung braucht, muss man aber in Frage stellen. Die Zukunft unserer freiheitlichen Grundordnung sieht realistisch betrachtet so aus, dass sich ein immer größer werdender Anteil der Menschen in Deutschland auch ohne Gottesglauben in ihr aufgehoben fühlen muss. Stand 2022 sind 48 Prozent der Menschen noch Mitglieder einer der beiden großen Kirchen. 44 Prozent sind konfessionell ungebunden (fowid 2023).
Der moderne Verfassungsstaat muss religiös und weltanschaulich neutral sein, weil in ihm Bürger ganz verschiedenen Glaubens und sehr viele Bürger ohne religiösen Glauben leben. Dass die sich alle benehmen müssen, um friedlich miteinander zurechtzukommen, ist selbstverständlich. Dass es gemeinsame, wenn vielleicht auch verschieden begründete, Werte braucht, stellt niemand in Abrede. Der Bezug der Verfassung auf eine Instanz, deren Existenz nicht von allen Bürgern geglaubt wird, ist im 21. Jahrhundert aber nicht mehr der richtige Weg.
Und wem, wie man im Fall der dumpfen Schläger in Dresden vermuten kann, eine philosophische Reflexion intellektuell zu mühsam ist, der darf sich gerne auch ohne Gottesglauben an die einfache und unmittelbar einsichtige Formel halten: „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst.“ Daran ist nichts deshalb falsch, weil man den lieben Gott vielleicht für ein Hirngespinst hält.
Andreas Dietz ist Stellvertretender Landessprecher Niedersachsen/Bremen des IBKA