Freidenker in der DDR im Wandel

Auf der Suche nach einem neuen Selbstverständnis - Freidenker in der DDR im Wandel

Bericht vom Verbandstag in Dresden, 23./24. Juni 1990

Aus: MIZ 2/90

56 Jahre lang war die Tradition der Freidenker in der DDR verschüttet. 1933 verboten die Nationalsozialisten die Freidenker, 1946 erteilte Wilhelm Pieck ersten Initiativen zur Neukonstituierung eine brüske Abfuhr. Die SED duldete keine Konkurrenz in Weltanschauungsfragen. Um so überraschender war es, als Anfang 1989 mit großem propagandistischen Aufwand in den DDR-Medien die Gründung des Verbandes der Freidenker (VdF) betrieben wurde. Was einige damals gleich vermuteten, bestätigte sich im Frühjahr dieses Jahres. In Rostock fand sich ein Befehl des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) vom Dezember 1988. Demnach saßen die Initiatoren der Freidenker-Bewegung im Politbüro der SED.

Die alten Machthaber wollten mit dem Verband ein Forum schaffen, das mit der immer stärker werdenden Opposition im Lande einen Dialog über Weltanschauungsfragen führen sollte. Einen kontrollierten Dialog, versteht sich. Vor allem sollte der Freidenkerverband als ideologisches Bollwerk gegen die Kirchen fungieren und die kritischen Köpfe, die sich unter dem Dach der evangelischen Kirche versammelten, für den Staat zurückgewinnen. Ende Juni 1990 trafen sich die Freidenker in Dresden zu ihrem ersten Verbandstag nach der Wende. Vergangenheits- und Zukunftsbewältigung standen auf dem Programm.

"Wir kannten den Beschluß des Politbüros, aber von dem Befehl des Ministeriums für Staatssicherheit, uns als Spitzelorganisation zu mißbrauchen, haben wir nichts gewußt", versichert Helmut Klein den Delegierten in seinem Rechenschaftsbericht. Helmut Klein, langjähriger Rektor der Ostberliner Humboldt-Universität, war bis zu diesem Verbandstag Vorsitzender der Freidenker in der DDR. Gegen einzelne Mitglieder sei in den letzten Monaten geradezu ein Nervenkrieg geführt worden, berichtete er. Viele hätten deshalb den Verband verlassen.

Wieviele von den anfangs 15000 Mitgliedern noch übrig geblieben sind, will in Dresden niemand so genau sagen. Die Zahlenangaben schwanken zwischen 3000 und 10000. Der Vorwurf der Spitzeldienste hat tief getroffen. Die Verteidigungslinie der Freidenker läßt sich in dem Satz zusammenfassen: Das, was das Politbüro der SED mit der Gründung des Verbandes der Freidenker beabsichtigte, ist das eine, aber das, was wir daraus gemacht haben, ist das genaue Gegenteil. Bewiesen hätten das vor allem die Mitglieder an der Basis durch praktische Hilfe für Menschen in schwierigen Lebenssituationen.

Die Kritik am Zentralvorstand, daß er sich zur Wende nur leise oder überhaupt nicht geäußert habe, sei jedoch berechtigt. Deshalb hat Helmut Klein auch seinen Rücktritt als Verbandsvorsitzender erwogen: "Ein Rücktritt ist nur berechtigt, wenn diejenigen, die zurücktreten, damit auch ein Schuldbekenntnis abgeben für etwas, was nicht Recht und Gesetz und dem Vertrauen der Mitglieder entspricht. Und nach gründlicher Prüfung sind wir zu dem Schluß gekommen, daß bei allen Geburtsfehlern, die wir hatten, es dennoch so ist, daß wir für uns in Anspruch nehmen können, daß wir unter den damaligen ziemlich komplizierten Bedingungen die Identität des Verbandes in einer Richtung gemeinsam geprägt haben, für die wir uns heute nicht zu schämen brauchen."

Beifall erntete Helmut Klein auch von den Gästen des Westberliner Deutschen Freidenker-Verbandes, Landesverband Berlin. Noch Ende März 1990 hatten sie in einem Offenen Brief die Selbstauflösung des Verbandes gefordert. Klaus Sühl, Westberliner Landesvorsitzender, betont, es sei ihm dabei nicht um Gesinnungsschnüffelei gegenüber einzelnen Mitgliedern des VdF der DDR gegangen: "Unser Anliegen ist es gewesen, die Freunde in der DDR aufzufordern, zur Kenntnis zu nehmen, was gewesen ist. Nicht so zu tun, als hätte es eine Stunde Null in der DDR gegeben, sondern sich ehrlich und aufrichtig zur Vergangenheit zu bekennen, weil das erst ein kritisches Verhältnis ermöglicht, um in der Öffentlichkeit glaubwürdig dazustehen. Wenn wir die letzten Monate sehen, sind wir guter Hoffnung, daß die Freunde in der DDR das sehr weit begriffen haben."

Beleg dafür ist eine Neukonstituierung des Verbandes von unten nach oben: also Neuwahlen der Vorstände in Bezirken und Kreisen und die Bildung von Landesverbänden während der vergangenen Monate. In dieser Zeit wurden auch eine neue Satzung und veränderte programmatische Leitlinien erarbeitet. Auf formaler Ebene hatten die Freidenker in der DDR ein deutliches Zeichen des Erneuerungsprozesses gesetzt. Der äußere Rahmen des Verbandstages war allerdings nicht gerade dazu geeignet, den Vorwurf zu entkräften, der Verband der Freidenker sei nur ein Ziehkind der SED. Tagungsort war das Haus für Kultur und Bildung. Bis vor wenigen Wochen residierte in dem mehrstöckigen Komplex mit angeschlossenem Internat die Parteihochschule der SED. Unter den Delegierten des Verbandstages erkannten Eingeweihte gleich mehrere ehemals erste Bezirkssekretäre der Partei. Wen ich auch ansprach auf die Freidenker, ob auf der Straße, in Cafés oder abends in der Semperoper: Übereinstimmend hieß es: "Freidenker? Das sind doch die alten SED-Funktionäre, die sich ein Pöstchen sichern wollen." Mit diesem Urteil müssen die Freidenker leben, seit der Stasi-Befehl am Runden Tisch verlesen und in den Tageszeitungen veröffentlicht wurde.

Während des Verbandstages wählten die Delegierten mit großer Mehrheit den Rostocker Pädagogik-Professor Wolfgang Bauer zum neuen Vorsitzenden. Mit welcher Strategie will er das Mißtrauen der Bevölkerung entkräften? "Durch den Nachweis, daß wir es ernst meinen mit dem, was wir sagen. In der Praxis des Alltags, das ist der einzige Weg zu beweisen, daß die Vorwürfe inzwischen weitestgehend Vorurteile sind, daß es der Verband ernst meint und in der Öffentlichkeit mindestens ein bißchen Fairneß verdient."

Zu den Kirchen sucht der Freidenker-Verband den "freundschaftlichen Dialog". Einige Delegierte beklagten allerdings die mangelnde Abgrenzung und plädierten für schärfere Konturen. Doch der Freidenker-Verband in der DDR ist dazu verurteilt, mit den Kirchen zusammenzuarbeiten, meint Frank Schütte vom Internationalen Bund der Konfessionslosen und Atheisten (IBKA) in Westberlin: "Wenn es eine atheistische Interessenvertretung in der DDR geben sollte, dann wäre es das vordringliche Interesse dafür zu kämpfen, daß Privilegien abgebaut werden, daß sich die Kirchen auf die Trennung von Staat und Kirche besinnen und aus eigener Kraft das schaffen, etwas aufzubauen. Aber diese Kritik kommt nicht vom Freidenker-Verband, im Gegenteil. Er proklamiert drüben die freundschaftliche Zusammenarbeit mit den Kirchen. Da sagen wir, er könnte ja auch gar nichts anderes tun bei seiner Vergangenheit, um nicht wieder in die Schußlinie zu geraten. Dieser Verband ist erpreßbar. Würde er einen kirchenkritischen Kurs einschlagen, der nötig wäre, würde es heißen: aha, die alten Stasi-Allüren. Und wenn er mit den Kirchen allein freundschaftlich verkehrt, dann wird er nicht mehr ernstgenommen als Interessenvertretung von Konfessionslosen und Atheisten."

Mit Fragen wie staatlicher Einzug von Kirchensteuern, Religionsunterricht an den Schulen usw. brauchte sich der DDR-Verband der Freidenker bisher nicht auseinanderzusetzen. Jetzt orientieren sich die DDR-Freidenker an der Haltung der westdeutschen Freunde. Den staatlichen Einzug von Kirchensteuern lehnt der Freidenker-Verband der DDR zwar ab, beantragt aber dennoch gleichzeitig, als Körperschaft des öffentlichen Rechts wieder zugelassen zu werden. Hintergrund ist die desolate Finanzsituation des ehemals so üppig ausgestatteten Verbandes. 2,3 Millionen Mark hatten die Freidenker 1989 zur Verfügung. Noch zeugen eine Hochglanzbroschüre, repräsentative Büroräume in der Innenstadt von Ostberlin und sage und schreibe sechzig hauptamtliche Mitarbeiter von der großzügigen Unterstützung der alten Macht im Staate. Doch damit ist es nun vorbei. Ganze 55000 DM hat der Verband nach der Währungsumstellung noch zur Verfügung, das reicht nicht einmal für die Juli-Gehälter. Für das laufende Jahr hat der DDR-Verband drei Millionen Westmark als Zuschuß beantragt. Allerdings forderte die SPD-Fraktion in der Volkskammer den sofortigen Stop von staatlichen Zuschüssen für Organisationen, die Jugendweihen durchführen. Die finanzielle Existenz des Verbandes ist also völlig unsicher.

Die Rettung könnte unter einem gemeinsamen Dach aller Freidenker in einem geeinten Deutschland liegen. Um als Körperschaft des öffentlichen Rechts anerkannt zu werden, löste sich der Verband der Freidenker der DDR vom alten Taufnamen der SED und nennt sich nun auch Deutscher Freidenker-Verband. Der Name aus der Weimarer Zeit erleichtert die Anerkennung, so der Tip eines Delegierten aus Nordrhein-Westfalen. Aber nun gibt es drei Organisationen dieses Namen: in der DDR, der Bundesrepublik und in Westberlin. Obwohl das Kriegsbeil zwischen den Westberlinern und den DDR-Freidenkern begraben ist, verhandelten die Ostberliner bisher nur mit den Bundesdeutschen über einen möglichen Zusammenschluß. Klaus Hartmann, Vorsitzender des Deutschen Freidenker-Verbandes, Sitz Dortmund: "Wir erhoffen eine Klärung aus der inhaltlichen Zusammenarbeit, und da wird sich erweisen, wes Geistes Kind einer ist und ob es eine Zusammenarbeit ohne Ansehen der Vergangenheit geben kann. Wir stellen uns die Modalitäten so vor, daß wir uns weder vom Tempo noch von der Machart her an den Bonner Fahrplan halten. Weder Bevormundung oder inhaltliches Überstülpen. Was das Tempo angeht, sind wir gegen jede Sturzgeburt, aber für eine Annäherung in inhaltlich praktischen Schritten, einen regen Austausch in unseren Gruppen, die sich schon seit Jahresbeginn spontan und intensiv entwickelt haben, daß wir auf diesem Wege zu einem Zusammenwachsen kommen. Das wäre für uns die solide Grundlage für eine Zusammenarbeit."

Doch neben der unsicheren materiellen Existenz des Freidenker-Verbandes der DDR ist auch die künftige ideologische Richtung schwer einzuschätzen. Skeptisch stimmt die Tatsache, daß der alte und neue Geschäftsführer des DDR-Verbandes der frühere Chef für Agitation und Propaganda der SED in Berlin-Mitte ist. Mit gutem Gehalt, versteht sich. Delegierte, denen das Bemühen um Erneuerung nicht deutlich genug ist, wollen sich nicht vor dem Mikrophon äußern. Die Angst vor anstehenden Entlassungen spielt dabei eine Rolle. "Bei uns gibt es noch viel altes Denken", sagen sie halblaut. "Man ändert sich nicht von heute auf morgen."

Kernproblem des Freidenker-Verbandes der DDR ist jedoch der alte Stasi-Geruch, der ihm immer noch anhaftet. Frank Schütte vom Internationalen Bund der Konfessionslosen und Atheisten gibt zu bedenken: "Man muß sich fragen, warum die weitere Existenz eines Verbandes, der als Spitzelorganisation geplant war und der nach der Wende politisch tot ist, so energisch betrieben wird." Und Dieter Grützner, Geschäftsführer der Freigeistigen Landesgemeinschaft Nordrhein-Westfalen befürchtet, daß der Freidenker-Verband in der DDR zukünftig auch als Auffanggesellschaft für arbeitslose SED-Funktionäre und sogar für ehemalige Stasi-Mitarbeiter dienen soll: "Die Vermutung ist uns zugetragen worden, daß ein ehemaliger Stasi-Offizier als hauptamtliches Mitglied bei den Freidenkern untergekommen ist - mit Wissen des Vorstandes. Wenn das enttarnt werden sollte, wird der Verband um eine Selbstauflösung nicht herumkommen." Trotz dieses Verdachts glaubt Dieter Grützner an eine weitergehende Selbstreinigung des Verbandes. Mit Freidenkern, die sich noch entschiedener von ihrer Gründungsgeschichte distanzieren und keine ehemaligen Stasi-Mitarbeiter in ihren Reihen dulden, hält Grützner eine Zusammenarbeit für möglich.

Zuversichtlich ist überraschenderweise ausgerechnet der ehemals so skeptische Klaus Sühl vom Westberliner Landesverband der Freidenker: "Bei der Finanzlage und dem Vorurteil in der Bevölkerung wird sich der Mitgliederschwund bei den DDR-Freidenkern fortsetzen ... Aber wer dann noch mitmacht, das ist keiner, der nur einen Partei-Auftrag verwirklicht. Der meint es wirklich ernst mit der Freidenker-Idee. Und mit solchen Menschen arbeiten wir natürlich gern zusammen."

STM