Säkularisierung und Frieden

Ein Gastbeitrag von Werner Hager

Der britische Religionskritiker George Jacob Holyoake prägte 1851 den Begriff "secularism", um den es hier ausdrücklich nicht geht.

Vielmehr geht es um ein logisches Prinzip: Die Grenzziehung zwischen dem zum Klerus gehörenden "Klerikalen" und dem weltlichen "Säkularen". Meine These ist, dass erst die Möglichkeit, diese Unterscheidung überhaupt zu denken, die Möglichkeit eines gedeihlichen und auch (religions-)kriegsfreien Miteinanders schafft.

Die Autonomie der Politik, ihre Eigengesetzlichkeit, kann auch erst gedacht werden, wenn sie zumindest als nicht identisch zu Moral und damit historisch zu zuerst religiösen Moralvorstellungen gedacht werden kann. Eine Kritik der Politik und damit von Macht und Herrschaft - auch materiell durch die Monopolisierung der Gewaltanwendung - kann so rational erfolgen. Irrationale Kritik der Politik ruft meist den Common Sense an, verarbeitet intellektuell seine Widersprüche nicht und lebt diese dann gewalttätig aus.

Ich verstehe unter Frieden die nichtgewaltförmige Aushandlung von Konflikten, insbesondere den Verzicht auf Kriege. Auch in der bestehenden kapitalistischen Welt wäre eine derartige friedliche Entwicklung möglich, ohne dass hierdurch die Möglichkeit zur Infragestellung von Herrschaft unmöglich wird.

Der erste säkulare Schritt ist es, den anderen Menschen anzuerkennen, ihn nicht nur als Anders- oder Nichtgläubigen, sondern als zur Rationalität fähiges Wesen zu sehen. Als ein Wesen, mit dem Verträge geschlossen werden können. Dies ist ein reziprokes Verhältnis: Der andere muss denselben Prozess durchmachen.

Ist dieser Schritt einmal gegangen, bildet sich die Möglichkeit, auf rationaler Basis ein Gesellschaftssystem zu denken und gleichzeitig zu entwickeln, denn der gemeinsame Konsens ist geschaffen.

Die Säkularisierung ist eine der zentralen Tendenzen der Moderne. Bis vor einigen Jahrzehnten gingen sogar fast alle davon aus, dass Religion sich auf dem Rückzug befände und alle Lebensbereiche zunehmend verweltlichten. Die letzten Jahre haben gezeigt, dass dieser Automatismus keineswegs vorausgesetzt werden kann, es sich aber lohnt, Säkularisierung bewusst weiter zu betreiben.

Säkularisierung in Europa ist verknüpft mit der Trennung von Religion und Staat. Sie ist der Lernprozess Europas, welches die religiösen Bürgerkriege bis zur völligen Erschöpfung betrieben hatte. Die Konzeption einer von den religiösen Kräften unabhängigen, neutralen Institution, die von allen anerkannt werden konnte, schaffte innere Friedensordnungen. Die Akzeptanz Andersgläubiger - später auch Nichtgläubiger - erlaubte es Menschen, miteinander zu leben.

Diese Konzeption ist eine europäische, aber sie ist eben auch universalistisch: Die Anerkennung der Vernunftfähigkeit reicht aus, um Gläubige oder Nichtgläubige in einer gemeinsamen politischen Ordnung leben zu lassen.

Diese Ordnung hat aber Vorbedingungen: Der (meist religiöse) Wahrheitsanspruch muss soweit zurückgenommen werden, dass auch anderen die Fähigkeit, zumindest richtige Schlüsse zu ziehen, zugestanden wird. Und die AkteurInnen müssen sich wechselseitig vertrauen, dass sie diese historische Errungenschaft wertschätzen. Es muss ein gegenseitiges Vertrauen entstehen, dass niemand versucht, diese Ordnung zu ersetzen. Weder durch eine religiöse noch eine säkularistische Ordnung. Denn letztere wäre wiederum für einige Religiöse nicht akzeptabel.

Gute Ausgangsbedingungen finden säkulare Ansätze, wenn in Gesellschaften keine Mehrheitsreligion besteht und keine Gruppe von Religionsgemeinschaften versucht, diese Situation zu monopolisieren.

Säkularität kann auch sehr gut mit einer Stärkung individueller Rechte einhergehen: Religionsfreiheit als das Recht, die eigene Religion frei zu wählen, sie zu wechseln oder auch keiner Religion anzugehören, gehört hierzu in der Moderne genauso wie das Recht auf Religionskritik als Urform der Freiheitsrechte.

Für dieses Projekt lohnt es sich zu kämpfen, denn es ist ein Friedensprojekt. Aber es ist ein Projekt auf Basis eines Anspruches auf Wahrheit und Freiheit und dies ist heute nicht mehr selbstverständlich.